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Evelyn Grill

Das römische Licht

Roman

Residenz Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
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www.residenzverlag.at

© 2008 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:
978-3-7017-4379-7

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1503-9

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Weitere Bücher der Autorin

1

Gestern erst hier angekommen, kaum den Koffer ausgepackt, das Bett bezogen, das Bad in Besitz genommen, mich aus dem Fenster gelehnt, mich am Ausblick erfreut, eine Nacht verbracht, geschlafen trotz des Lärms, gut geschlafen; gestern erst das Atelier in Augenschein genommen, voll Hoffnung und Zuversicht gewesen und heute schon ein Anruf. Ich hätte ihn überhören können, hätte nicht da sein müssen, war ja auch gerade am Weggehen, war aber eben noch nicht weg. Wenn ich doch schon weg gewesen wäre, vielleicht hätte sie mich auch das nächste Mal nicht erreicht. Da wäre ich im Bad gewesen, unter der Dusche, oder im Bett, tief im Schlaf, oder ich hätte mir vorgenommen, keinen Anruf entgegenzunehmen. Aber das habe ich noch nie ausgehalten. Natürlich würde ich den Hörer abnehmen, es könnte ja mein Agent sein oder ein Galerist. Eigentlich interessierten mich nur Ausstellungsmacher. Ich hatte vor, hier in Rom keinerlei private Kontakte zu pflegen, keine Zeit mit persönlichen Dingen zu verschwenden. Habe deshalb niemandem meine Telefon-Nummer gegeben. Doch meine Schwester, sie hat sie herausgefunden.

So schnell läßt man nicht alles stehen und liegen, was stellt sie sich vor! Wer weiß, wann ich wieder nach Rom komme, ob ich je wieder Gelegenheit haben werde, ob ich jemals wieder ein Stipendium erhalte. Ich bin hier, um zu malen, ich bin eine Künstlerin, sagte ich zu meiner Schwester. Wenn du das noch nicht wissen solltest, ich bin in Rom, um Anregungen für meine Bilder zu bekommen, ich bitte dich, nimm das zur Kenntnis. Am Ende muß ich etwas vorlegen können, meine Geldgeber verlangen von mir etwas Vorzeigbares, eine Ausstellung meiner neuen, während meines Aufenthalts in Rom geschaffenen Arbeiten ist vorzubereiten, Werke, die ich erst schaffen muß. Meine Arbeit duldet keine Unterbrechung; denn wer nach Rom kommt und sich einbildet, Form zu haben, der wird, wenn er einsichtig ist, bald finden, daß er von neuem lernen muß zu sehen.

Ich verstehe dich, hörte ich meine Schwester sagen, natürlich verstehe ich dich. Aber ich verstehe dich auch nicht. Ich würde alles liegen- und stehenlassen, wenn ich eine solche Nachricht bekäme, ich würde vom anderen Ende der Welt nach Hause kommen, würde mich vor den Schuldgefühlen fürchten, wenn ich zu spät käme.

Schuldgefühle, weshalb Schuldgefühle! Ich empörte mich. Bin ich daran schuld, daß sie im Koma liegt? Ich verstand das Drängen nicht. Lisa sagte doch, daß sie nicht bei Bewußtsein sei, daß sie gar nichts mehr wahrnehme, daß es noch lange dauern könne, ich aber brauche diese zwei Monate. Es seien ja ohnehin nur zwei Monate, die man mir zugestehe, es handle sich ohnehin nur um acht Wochen, die aber müsse ich nützen, dafür hätte die Mutter sicher Verständnis gehabt. Sie hat sich selbst auch ihre Freiheiten herausgenommen, ob Lisa sich nicht mehr erinnere, die Freiheiten, die sich unsere Mutter immer herausgenommen habe? Wir haben ihr ja auch ihre Freiheiten gelassen, wir haben sie ziehen lassen, immer haben wir sie ziehen lassen.

Darauf könne man doch jetzt nicht zurückkommen. In dieser Situation, sagte meine Schwester, sei eine solche Aufrechnung unmenschlich, unter diesen Umständen, in dieser Lage …

In dieser Lage, ja, vor allem in dieser Lage sei es doch sinnvoller, gab ich meiner Schwester zu bedenken, sich erst an ihrem Bett einzufinden, sobald sie erwacht sei aus ihrem Schlaf, ihrer Ohnmacht. Was nütze es ihr, wenn wir jetzt neben ihr sitzen? Was helfe es ihr, mich von Rom aufzuscheuchen?

Das sind doch keine Fragen, die sich jetzt stellen, unterbrach mich Lisa, darum geht es doch nicht.

Worum geht es dann? Mir geht es darum, daß ich in einer geradezu obsessiven Arbeitsphase stecke. Das war Behauptung und gleichzeitig Wunschdenken. Weißt du, was du von mir verlangst? Endlich sei ich in Rom, jahrelang hätte ich mich um ein Rom-Stipendium beworben, immer vergeblich, endlich sei es mir gelungen, die Jury zu überzeugen, und man erwarte viel von mir; das jedenfalls hatten mir die Juroren, hochkarätige Kunstkenner, zu verstehen gegeben. Für morgen zum Beispiel habe ich mir die Vatikanischen Museen vorgenommen, stell dir vor, in meinem Alter zum ersten Mal in die Vatikanischen Museen. Raffaels Stanzen wollte ich studieren. Ich darf keine Zeit verlieren, heute bin ich bereits über den Gianicolo gewandert, in Trastevere bin ich heruntergekommen. In dem Moment, in dem es klingelte, bin ich gerade erst zur Tür herein, log ich. Ein Licht ist das, das römische Licht! Das könne sich Lisa gar nicht vorstellen, was das für mich bedeute, welche Anregungen. Was für andere Maler das Licht der Provence gewesen sei und noch ist, sei für mich das römische Licht. Es ist ein feuchtes Licht, nicht so trocken wie das der Provence, das provenzalische Licht ist hart und trocken, das römische ist feucht und weich. Dieses feuchte und weiche römische Licht hat etwas Haptisches, man glaubt, es mit Händen greifen, auf die Leinwand werfen zu können. Das kommt meiner Malerei entgegen, jetzt, da ich mich wieder dem Gegenstand zugewandt habe, mich mit der Figur beschäftige. Ich will wieder zu denken anfangen beim Malen, verstehst du, Bilder, die Geschichten erzählen, sollen hier entstehen. Das geballte Barock, diese Sinnlichkeit und Grausamkeit, die mich in Rom umgeben! Sobald ich die Augen aufschlage, sehe ich die kolossalste und brutalste Schönheit. Ich wußte es vom ersten Tag an, seit ich hier ankam, schon als ich an der Stazione Termini dem Zug entstiegen bin, wußte ich, daß ich für mich den Gegenstand in der Malerei neu finden würde. Es ist ja nicht nur das Licht hier, es ist auch der Geruch. Das Licht hat auch einen Geruch, einen Duft, der mich nicht zur Ruhe kommen läßt, der Duft und das Licht. Ich weiß, sagte ich, mein Künstlerdasein ist von der Familie, auch von unserer Mutter, nie wirklich ernst genommen worden. Sonst würdest du mir nicht zumuten, meine Chance, meine vielleicht letzte Gelegenheit, als Malerin hervorzutreten, aufzugeben, Rom zu verlassen, Rom, diesen Kontinent, denn Rom sei ein Erdteil, nicht nur eine Stadt, gerade jetzt zu verlassen, das hieße für mich, alles aufgeben. Ich schwieg. Lisa sagte nichts, ich hörte sie atmen. Natürlich liebe ich meine Mutter, schrie ich in den Telefonhörer, was für eine Frage!

Warum brüllst du denn so, fragte die Schwester, warum schreist du mir etwas ins Ohr, was ich nie in Frage gestellt habe. Über deine Gefühle mußt du mir keinerlei Rechenschaft ablegen. Das hast du allein mit dir auszumachen. Allerdings sitze sie, Lisa, beinahe den ganzen Tag am Krankenbett, streichle die Bewegungslose, spreche mit ihr. Manchmal zucke es um die Mundwinkel der Mutter, manchmal bewege sich ein Lid. Sie wolle den Moment nicht versäumen, wenn die Mutter ihre Augen wieder aufschlägt, wenn die Maschinen endlich abgestellt werden können, die sie nun am Leben erhielten, und das könne jederzeit sein, ein Aufwachen sei jeden Augenblick möglich. Sie erwarte von mir, daß ich an ihrer Seite bin, wenn die Mutter die Augen wieder aufschlägt, das müsse mir doch auch selbst ein Bedürfnis, ein Verlangen sein, das Gesicht der Mutter zu sehen, wenn sie wieder zu sich kommt, sich ihre Lider wieder heben, der Mund wieder lächelt, die Augen wieder strahlen. Denn, davon sei Lisa überzeugt, das werde bald geschehen, das könne jederzeit eintreten. Die Ärzte hätten ihr Hoffnung gemacht. Wir sind es ihr schuldig, bei ihr zu sein, sagte Lisa, wenn unsere Mutter wieder zum Leben erwacht, noch einmal zur Welt kommt.

Ich wunderte mich. Ich sagte, ich wundere mich, daß du sagst, wir sollten zur Stelle sein, wir, ihre beiden Töchter, die sie verlassen hat, seinerzeit, weißt du noch, das weißt du doch noch, wegen eines anderen Mannes. Wir hätten sie noch gebraucht, weiß Gott, wie wir sie gebraucht hätten, aber immer ist sie auf und davon, wenn wir sie gebraucht hätten. Darunter hast du doch auch gelitten, sagte ich der Schwester, und jetzt macht sie sich wieder davon, läßt uns wieder zurück, schrie ich, schon wieder, und wir, wir sollen ihr nachlaufen, und sie, ist sie uns je nachgelaufen?

Warum brüllst du denn schon wieder? Es hat keinen Sinn, weiterzureden, sagte meine Schwester, du bist so entsetzlich, so grausam, deine Stimme ist so hart, ich kann dich nicht ertragen. Dich nicht auch noch ertragen. Ich mache jetzt Schluß.

Die Verbindung war abgebrochen, ich hatte noch den Hörer am Ohr. Ich legte auf. Nahm ihn wieder hoch, legte wieder auf. Es hatte keinen Sinn. Ich konnte mich nicht verständlich machen, ich war es leid, mich verständlich machen zu müssen. Immer habe ich mich erklären müssen, dachte ich, aber nie habe ich etwas klarmachen können in dieser Familie. Was hatte ich mit dieser Familie noch zu tun? Wann hatte ich meine Schwester zuletzt gesehen? Ich überlegte. Vor zwei Jahren bei der Firmung des ältesten Sohnes wahrscheinlich.

Ich ballte die Fäuste, stand auf, trat ans Fenster des Ateliers, meines Ateliers, lichtdurchflutet, Nordlicht, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Ich beugte mich aus dem Fenster, in der schmalen Gasse drängten sich die Menschen, lautes Stimmengewirr, krachende Mofas, Straßenmusikanten, Bésame Mucho, immer wieder Bésame Mucho, ein Lärm, wie ich ihn zu Hause niemals ausgehalten hätte. Hier in Rom hatte auch das Spektakel eine Farbe.

Kaum angekommen, kaum angefangen, mich hier einzuleben, und schon berauscht und zuversichtlich, dachte ich. Das Telefon, ohne das Telefon hätte mich die Nachricht nicht erreicht, ich wäre unerreichbar gewesen, zumindest für heute, für morgen, für die nächste Woche. Die Schwester hätte mir einen Brief schreiben müssen, einen Brief nach Rom, wochenlang wäre der möglicherweise unterwegs gewesen. Ein Brief kann einen nicht so überrumpeln wie ein Telefongespräch. Man ist seinen Ohren ausgeliefert, was ins Ohr hineinkommt, breitet sich aus im ganzen Körper, windet sich durch die Ganglien des Gehirns, strömt durch die Adern, bedrängt das Herz, drückt auf den Magen, das bringst du nicht mehr so schnell aus dir heraus. Da kannst du deine Augen aufreißen, durch die Via di Tor Millina gehen und auf die Piazza Navona, kannst dich hinstellen auf diesen Platz und glücklich sein wollen beim Anblick der Brunnen, der Farben, des Lichts. Nach einer solchen Nachricht kannst du das nicht mehr. Was fühlte ich denn? Ich war entsetzt, alles in mir zitterte, das Herz, der Magen, das Gedärm, alles in mir meldete sich in seiner lebendigen Existenz. Das Lebendige war das Bedrohliche. Dann wurde ich wütend. Wütend auf die Schwester, auf die Mutter, auf ihre Zumutungen! Ich mußte diesen Anruf vergessen, durfte mir nichts vorstellen. Ich kannte diese Stadt nicht, war zum ersten Mal in Rom, ich mußte erst anfangen, sie zu entdecken. Ich hatte mir so viel vorgenommen für heute, es drängte mich in die Chiesa di San Luigi dei Francesi mit den drei Gemälden von Caravaggio, den schönsten, die er in Rom gemalt hat.

Ich überquerte die Piazza Navona, ich überschritt sie, über solche Plätze läßt sich noch schreiten, obwohl er voll war von Menschen, in der Mehrzahl Touristen, überall geschmeidige Kellner. Gestern noch hatte ich dieses Treiben geliebt. Hatte mich gefühlt, als schwämme ich in einem Strom, zugehörig und angenommen. Queste belle ragazze! Dieser Schick! Die Italienerinnen führten vor, was nächstes Jahr bei uns getragen werden würde, aber natürlich nicht mit der gleichen bella figura. Ich fürchtete plötzlich, ich könnte nach der Nachricht, dieser Hiobsbotschaft, nicht mehr in meinen Ankunftszustand zurückfinden, der mir einen kreativen Schub anzukündigen schien, ich würde nicht mehr aufgehen können im Menschenstrom, der mich gestern noch mit Energie aufgeladen hatte. Ich spürte, wie ich auf einmal nicht mehr teilhatte an der geschäftigen Lebendigkeit der Passanten. Unvermittelt hatte ich eine Mutter, die jenseits der Alpen im Koma lag. Sah man es? Sah man es mir an? Es quälte mich einen Augenblick lang die Vorstellung, die Menschen, denen ich begegnete, die Männerblicke, die mich flüchtig streiften, entdeckten ein Zeichen auf meiner Stirn. Phantastereien, schalt ich mich. Das war der Schock. Natürlich hatte ich einen Schock. Eine Mutter, die plötzlich im Koma lag, war ein Schock. Aber ich mußte da durch. Vielleicht würde sich die Schreckenspost für meine Arbeit nutzen lassen. Das war frivol gedacht, dennoch: Ich wollte wieder leicht werden, so leicht, so unbeschwert, wie ich war, als ich hier ankam. Alles schien so gut, so richtig, so passend und wohltuend. Ich hatte Lisa gesagt, daß ich nicht kommen könne, hatte ich es so gesagt? Hatte ich es auch deutlich gemacht? Ich hoffte, die Schwester hatte mich verstanden und würde nicht mehr anrufen, würde mich zur Ruhe kommen lassen. In ein paar Tagen würde ich sicherlich zurückgefunden haben in meine Ankunftsgefühle und in mein Entzücken am römischen Licht, meine Zuversicht würde wiedererwachen. Die Leinwand im Atelier war aufgespannt, die Farben, die Pinsel, alles stand bereit, ich wartete darauf, daß sich etwas in mir begab, wartete darauf, daß die sanfte, selige Macht, wie Anselm Feuerbach aus Rom an seine Mutter geschrieben hatte, mir die Hand führte. Nur noch ein paar Tage gelassenes Schauen, mehr brauchte ich nicht. Neben der Tür der Chiesa di San Luigi dei Francesi hockte eine Bettlerin mit einem Kind an der Brust und streckte mir die gehöhlte Hand entgegen: Signora, Signora, per favore! Wie kalt ich an der Gestalt vorbeiging, sie paßte nicht in meinen Kosmos. Rasch in die Kirche. Eine plötzliche Stille. Der rumore ausgesperrt. Das Kircheninnere wirkte auf mich kühl, frostiger Marmor. Ich suchte die Cappella Contarelli. Warf Münzen in den Automaten, der Licht aufflammen ließ. Wie viele Münzen würde ich brauchen, um mich an den drei Caravaggios satt gesehen zu haben? Ich werde wiederkommen, sagte ich mir nach einer Weile, als es zum dritten Mal dunkel geworden war. Ich fröstelte, ich dachte an meine Mutter, nein, ich dachte nicht an sie, sie fiel mir ein, fiel in mich ein. Das Dunkel, schnell hinaus auf den Corso. Die Berufung des hl. Matthias. Du bist gemeint, deutete der Arm, der Finger. Ja, du! Ich? Ich? Ja, du. Ich werde gerufen. Caravaggio hat das Bild für mich, gegen mich gemalt, auch für mich, auch gegen mich. Unsinn, ich schüttelte mich. Versuchte, mir die Mutter nicht vorzustellen, ein Bild drängte sich mir trotzdem auf. Ich wollte mir nichts vorstellen, denn alle Vorstellungen waren falsch, sie erzeugten nur ein falsches Grauen.

Wann habe ich meine Mutter zuletzt gesehen? Vor einem Jahr, vor einem halben? Sie hatte in meiner Stadt eine Lesung. Die Plakate waren gut verteilt. Das Gesicht meiner Mutter fremd von den Litfaßsäulen. Sie hat Erfolg, endlich hat sie Erfolg, es hat sich gelohnt, uns zu verlassen, dachte ich damals bitter und haßte mich wegen meiner Bitterkeit. Dieses Kapitel glaubte ich heute abgeschlossen, diese Episode, mehr war es ja nicht, hatte ich längst überwunden, dachte ich. Natürlich ging ich zu der Lesung. Ich brauchte nicht allein zu gehen, ich motivierte Peter, meinen Freund und Berufskollegen, mitzukommen. Er zeigte sich sehr interessiert, meine Mutter kennenzulernen. Sie hatte mir eine Einladung geschickt, auch einen Brief dazu, daß sie sich freue … die Tochter endlich … und zu einem Gespräch … wie es mir gehe … wir hätten uns aus den Augen verloren. Ich erinnerte mich, daß ich lachte, böse oder bitter, als ich den Brief las. Nein, böse, ich wollte nicht verbittert erscheinen, Verlierer waren verbittert, die Zu-kurz-Gekommenen, zu ihnen wollte ich nicht gehören. Aber böse, ja, das war eine Qualität, mit der noch etwas zu gewinnen war, Respekt, Erfolg.

Der große Kinosaal war ziemlich voll, ich weiß noch, daß ich sogar ein wenig Stolz verspürte, ein töchterliches Gefühl, ich war die Tochter, ich stand ihr näher als sie alle, die sie der immer noch gutaussehenden, eleganten Frau zuhörten. Es ist meine Mutter. Das dachte ich, als ich neben Peter saß, dem meine Mutter Eindruck machte, das merkte ich, es tut noch weh, daran zu denken, daß ich so dachte. Ich hatte kaum Gelegenheit, die Mutter vor ihrem Auftritt zu begrüßen, konnte ihr natürlich auch meinen Begleiter nicht vorstellen, sie war verschwunden, wurde erst auf die Bühne gerufen, als die einleitenden, rühmenden Worte gesprochen waren. Wir saßen in der ersten Reihe. Ich sah die Mutter auftreten. Gewandt und doch unsicher, ich kannte sie zu gut, um nicht auch ihre Anspannung zu spüren. Es gibt Leute, die behaupten, ich sähe meiner Mutter ähnlich, das finden vor allem jene, die meinen Vater nicht kennen. Ich gleiche beiden, ich habe die Gesichter der Eltern studiert. Mein Gesicht als Kippfigur. An diesem Abend wollte ich ihr ähneln, ich wollte erkannt sein vom Publikum, wollte vorgestellt werden: Meine Tochter Xenia, sie ist Künstlerin, sie malt. Wollte von meiner Mutter eine Künstlerin genannt werden. War ich immer noch so unsicher, brauchte ich immer noch ihre Bestätigung? Ja, ich brauchte ihre Beglaubigung, ich hatte ihre Anerkennung nötig, ich brauchte aber auch Ausstellungen. Noch konnte ich von meiner Kunst nicht leben, das wußte meine Mutter wahrscheinlich, oder vielleicht wußte sie es nicht, sie hatte nie danach gefragt, ich lebte wie sie vom Schreiben anstatt vom Malen. Ich besprach Ausstellungen für die Lokalzeitung, machte Gutachten für Museen, für Auktionshäuser, schrieb für den Rundfunk, machte Führungen durch Kunsthäuser, gab Malkurse an der Volkshochschule, war flexibel. Manchmal verkaufte ich ein Bild. Öfter eine kleine Grafik. Auch Zeichnungen, von denen ich mich manchmal schwer trennte. Immerhin hatte ich es so weit gebracht, daß sich mein Zahnarzt die Überkronung eines Backenzahns mit zwei Grafiken bezahlen ließ. Und auch mein Friseur liebte meine Aquarelle.

Die Mutter las aus ihrem neuen Roman. Ich spürte die Aufmerksamkeit im Publikum, das intensive Zuhören. Schön, dachte ich, das muß schön sein, Menschen so fesseln zu können. Meine Mutter, eine erfolgreiche Schriftstellerin, eine begabte Vorleserin. Ich mochte nicht zuhören, die Geschichte war mir fremd, und doch war darin alles von der Mutter enthalten und von mir, so viel wollte ich gar nicht wissen von ihr und von mir. Schnörkellos nannte man ihre Sprache, manchmal schnitt sie einem ins Herz. Manchmal erlaubte sie den Zuhörern ein Lachen, das befreite, und schon war man wieder gestärkt, um ihr in die Abgründe eines Menschenlebens folgen zu können. Die Schriftstellerin las genau fünfundvierzig Minuten, danach stürmischer Beifall. Der Veranstalter betrat die Bühne, bedankte sich und wies auf den Büchertisch hin. Bald wartete eine Menschenschlange vor dem Tischchen der Mutter. Ich beobachtete, wie sie lächelte, jedem Buchkäufer in die Augen schaute, wie sie ein paar Worte sprach, die ich nicht verstehen konnte, wie sie ihren Namen schrieb oder ganze Widmungen, zufrieden nahmen die Menschen das signierte Buch entgegen, fast andächtig gingen sie ab, das Buch an sich gedrückt. Es erinnerte mich an ein Theaterstück oder an die Kommunion in der katholischen Kirche. Mutters Bücher als Hostien. Ich hielt mich mit Peter abseits, hoffte auf ihr Aufschauen, auf ein komplizenhaftes Lächeln, nur für die Tochter bestimmt. Vergeblich, natürlich vergeblich. Der Veranstalter kam auf mich zu, er nannte mir das Restaurant, in dem man sich noch treffen wollte, er lud mich im Namen der Mutter ein mitzukommen, sie alle würden schon mal vorausgehen, denn bei meiner Mutter würde es noch länger dauern, es warte noch ein Journalist, der für die Lokalzeitung ein Interview machen wollte. Ich war unentschlossen, aber Peter sagte, natürlich gehen wir da hin. Ich drehte mich noch einmal um, bevor ich den Saal verließ, wollte der Mutter zuwinken, tat es auch, aber die sah mich nicht. Im Speiselokal wartete ich lange, bestellte mir eine Suppe, mehr würde mein Magen heute nicht mehr vertragen, trank ein Glas Rotwein, unterhielt mich mit der Buchhändlerin zu meiner Linken, die begeistert von dem letzten Roman meiner Mutter sprach, und einem Bibliothekar zu meiner Rechten, langweilte mich schließlich, wurde ungeduldig, die Erwartete kam nicht. Peter, der neben der Leiterin des Kunstvereins wesentlich günstiger plaziert war, wollte schließlich gehen. Ich winkte ihm abschiednehmend zu, denn ich war noch nicht bereit aufzugeben. Später erfuhr ich, daß die Mutter mit dem Journalisten in ein anderes Lokal gegangen war. Mich, die Tochter, die anderen alle, hatte die Schriftstellerin vergessen, einfach sitzengelassen. Schließlich verabschiedete auch ich mich von dem etwas ratlosen Veranstalter. Ich ging zu Fuß durch die Stadt nach Hause, weinte Tränen der Wut. Daß ich der Mutter gerne Peter vorgestellt, ihr meine kleine, hübsche Wohnung und einige meiner letzten Arbeiten gezeigt hätte, wollte ich schleunigst vergessen. Auf meinem Anrufbeantworter Mutters Stimme: Wo bist du denn geblieben? Ich habe im Alten Mann auf dich gewartet. Am nächsten Morgen rief sie aus ihrem Hotel an, sie sitze beim Frühstück, müsse aber gleich zum Zug. Es tue ihr so leid, daß es nicht geklappt habe, ein Mißverständnis. Macht doch nichts, sagte ich, macht doch überhaupt nichts, ich verstehe das. Gratulierte zum Erfolg. Nur nicht merken lassen, wie sehr sie mich verletzt hatte, wie weh sie mir immer noch tun konnte. Heute kam mir diese Erinnerung zupaß. Sie, die keine Minute für die Tochter hatte, der Journalist war ihr wichtiger gewesen, ein kleiner Schreiberling von einer Provinzzeitung. Und jetzt sollte ich meine Arbeit liegenlassen, um zu ihr zu fahren, um an dem Bett einer Bewußtlosen zu sitzen? Es war gut, sich an meine letzte Begegnung zu erinnern, den Schmerz wieder heraufzurufen, diese Erinnerung gab mir ein Recht, mich zu verweigern. Ich merkte, wie sich mein Rückgrat straffte, wie sich mein Kopf hob. Ich schritt beschwingt den Corso del Rinascimento entlang, schlängelte mich durch den Strom der Passanten, war in Eile, das Rotlicht einer Ampel brachte mich zum Stehen, ich blickte um mich. Wohin wollte ich jetzt eigentlich? Ich hatte kein Ziel. Welch ein Verkehr, welch ein Lärm, welch ein Getümmel, ich fühlte mich wieder ganz bei mir, war wieder angekommen in dieser Stadt, in Rom. Doch wohin jetzt? Nur dieses Gefühl nicht wieder verlieren, ein Gefühl von Angekommensein. Ich war es zu forsch angegangen, ich mußte mir mehr Zeit lassen, die Eindrücke mußten sich festigen, keine Telefonate mehr. Ja, ich wollte mich einsam fühlen unter den Menschen, die diese schöne Sprache sprachen. Wenn ich nun jemanden fände, mit dem ich mich unterhalten könnte, in meiner Sprache, es würde mich herausreißen. Keine Ablenkung, ich wollte nur aufnehmen, nur schauen, schauend diese imperiale barocke Schönheit in mich einsaugen. Ich wollte unsichtbar werden, mußte wenigstens die Vorstellung haben, unsichtbar zu sein. Nur in einem solchen Zustand könnte ich zu einer wirklich Schauenden werden. Ich kehrte zurück auf die Piazza Navona, stellte mich vor den Vier-Ströme-Brunnen und wollte bei seinem Anblick etwas empfinden, etwas Ungeheures, etwas Besonderes, etwas, das noch nie jemand vor mir empfunden hatte bei dem Anblick dieser gewaltigen Wasserstürze, dieser befremdlichen steinernen Masse gegenüber der Chiesa Sant’ Agnese, mit dem wie schwerelos schwebenden Obelisken darauf, alles, alles aufnehmen, es wirken lassen, sehr glücklich oder sehr unglücklich werden. Die Sonne brannte vom Himmel, die Römer halten um diese Zeit ihre Siesta, nur ich, die Tedesca, wußte das noch nicht, glaubte, ich müsse in dieser Stadt den ganzen Tag auf den Beinen sein. Ich muß mir einen Hut kaufen, einen breitkrempigen Strohhut, dachte ich und befahl mir, jetzt schau dir doch diesen Platz an, den Vier-Ströme-Brunnen, die großartige barocke Szenerie, die römischen Farben, die Menschen, es sind in der Hauptsache Touristen, stranieri, tedeschi, so wie ich. Das will ich doch, eine straniera will ich hier sein, invisibile will ich sein, ich wollte aufgewühlt sein, doch ich spürte nichts außer der sengenden Sonne.

Eine dürre Katze strich mir um die Beine, sie hatte wahrscheinlich Hunger oder Durst, in Rom gab es zu viele Katzen, man sollte sie nicht berühren, sie übertrugen Krankheiten. Ich fühlte mich geradezu bedroht von ihrem Fell und den Rippenbögen, die durch den Pelz stachen und an meinen Waden rieben. Ich spürte die Wildheit in der Kreatur, eine Amoralität, die Hunger und Durst erzeugten, ich fürchtete, dass es seine Zähne in meinen Unterschenkel schlagen würde, es würde mich fressen wollen. Das Fell war gesträubt, das Tier miaute zu mir herauf, klagend, empört, fordernd, fauchte jetzt, man sah seine Zähne, dieses Raubtiergebiß, seine Augen waren gelb wie Eiter. Ich rührte mich nicht, totstellen. Da schlichen noch drei Katzen heran, sie waren plötzlich da, rieben sich an meinen Beinen, ich sah ihre mageren Rücken, ihre zerzausten Schwänze. Vor mir der Bernini-Brunnen und zu meinen Füßen die hungrigen Katzen, ich machte einen Schritt zur Seite, ein zorniges Miauen, ich ging rasch, sie folgten mir nicht.

Ins Atelier. Ich wollte meine Angst malen, mein Entsetzen, die Lächerlichkeit meiner Angst und meines Entsetzens, das müßte auf die Leinwand gebracht werden. Wenn es mir gelänge, dann würde ich vielleicht wissen, aus welchen Urgründen sich diese Angst speist. Doch vor der aufgespannten leeren Leinwand verließen mich Mut und Kraft. Ich wollte nur noch schlafen, vergessen. Ich bezwang mich, rasch wieder hinaus. Die Stanzen des Raffael kamen heute nicht mehr in Frage, aber das Pantheon, das lag nahe, dort war der Maler begraben, aber nicht nur das trieb mich dorthin, es war die Piazza della Rotonda, dieser vielgerühmte Platz, auf dem es vor Menschen wimmelte. Ich könnte mich in eines der Cafés setzen und die Menschen beobachten und einen Espresso trinken oder ein Eis essen. Aber nachdem ich den gewaltigen Bau auf mich hatte wirken lassen, wollte ich mich erst noch unter die Pantheon-Kuppel stellen, das »Himmelsgewölbe«, wie es der Historiker Dion Cassius genannt haben soll. Durch die einzige Öffnung in der Mitte der Kuppel fiel das Licht der Sonne um diese Zeit mit der größten Intensität. Es war ein scharfer Strahl, herrlich und bedrohlich zugleich. Er könnte tödlich sein. Ich stellte mich in den Schein, wurde überschüttet mit Licht und schloss die Augen. Ich hörte Stimmen, denn auch hier war ich selbstverständlich nicht allein, ganz nahe ein Kichern, ich öffnete die Augen, junge Mädchen, Deutsche, zeigten grinsend auf mich. Ich lächelte zurück. Sie lachen zu Recht, dachte ich. Wer geht schon ins Pantheon, stellt sich ins Licht und schließt die Augen? Ein Mann in abgetragenem Anzug bewegte sich hüpfend über die Fläche. Er warf keinen Blick in die Kuppel, der Lichteinfall war ihm gleichgültig, auch die Nischen mit den Grabmälern an den Wänden, er hatte den Kopf gesenkt und schaute zu Boden. Ich beobachtete ihn, ich war die einzige, die ihn beobachtete. Sein Fortbewegen hatte etwas Tänzerisches, ein Zwangsneurotiker, dachte ich, der seine Füße mit ganzer Sohle auf die Platten auftreten läßt und vermeidet, auf die Fugen zu steigen. Es war aber komplizierter, denn er gestattete sich offenbar nur die Porphyrplatten, den Granit und den Marmor mied er. Deshalb schwankte er manchmal, blieb für Sekunden mit ausgestreckten Armen wie ein Seiltänzer, zitternd das Gleichgewicht haltend, stehen und sprang dann weiter. Er wirkte angestrengt und konzentriert, sein Gesicht war gerötet, gelegentlich rempelte er einen fotografierenden Touristen an, der dann für einen Augenblick empört und kopfschüttelnd die Kamera sinken ließ. Er umrundete den Innenraum. Vor dem Grabmal Raffaels machte er eine Verbeugung, zog sich einen imaginären Hut vom Kopf. Ein Kunstfreund oder ein Künstler? Als er am Eingang angekommen war, blieb er stehen, blickte noch einmal ins Innere, nickte, lächelte, wischte sich mit einer Hand eine dünne Haarsträhne aus dem Gesicht und während ich erwartete, daß er nun auf der Piazza seine Schritte auch einer Zwangsordnung unterwerfen würde, schritt er mit geschwellter Brust, stolz wie ein Schauspieler, der nach geglückter Darbietung Beifall verdiente, über den Platz. Ich überlegte mir, ob sich seine Gestalt bildnerisch darstellen ließe, wollte sie mir merken, verzichtete auf einen Kaffee auf der Piazza und ging auf die Suche nach anderen Motiven. Ich wollte nicht suchen, sondern finden.

Auf dem Rückweg zur Piazza Navona stellte sich mir in der Via della Cuccagna eine alte Frau in den Weg, sie krümmte sich mir entgegen, mit einem dramatischen Zittern streckte sie mir die knotigen Hände hin, lallte aus zahnlosem Mund. Ich unterdrückte mein Mitleid und fühlte nur noch Ekel, als mir die Bettlerin buchstäblich auf den Leib rückte und mir den Weg versperrte. Ich mußte sie zur Seite schieben, die Berührung des fremden, knochigen Körpers verursachte mir Übelkeit. Als ich an ihr vorbei war, keifte die Alte hinter mir her, es waren vielleicht Verwünschungen. Das Pathos der Armut. Ich flüchtete mich in die Chiesa sopra Minerva hinter dem Pantheon, wo ich Michelangelos schönen Herrn Jesus mit seinem weißen Leib und seiner goldenen Schärpe um die Hüfte, die ihm nicht von Michelangelo umgelegt worden war, besuchte. Zerstreutes Licht fiel auf die fast individuelle Physiognomie. Die Statue sei als männlicher Körper ein vollendetes Kunstwerk, als Jesusdarstellung sei sie manieriert, sagt man. Wahrscheinlich hatte man ihm deshalb die goldfarbene Schärpe umgelegt, um die Manier etwas zu mildern und seine antikische Nacktheit zu verbergen. Umgelegt ist der falsche Ausdruck, man hat dem Geschlechtsteil einen üppigen, ehernen Knoten aufgepeppt, die linke Hüfte ist nackt, erlaubt den Blick auf einen formvollendeten verlängerten Rücken und macht einen koketten Eindruck, während sich auf der rechten die Drapierung ihren Halt sucht: Il pannegio bronzeo è posteriore