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Peter Rosei

Madame
Stern

Roman

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ISBN eBook:
978-3-7017-4516-6

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1606-7

VORSPIEL

1. Wie es dazu kam, dass Johann Josef Maiernigg, Vater des nachmalig berühmten Ministers, in die Elektrobranche, in den Handel mit Elektro- und Haushaltsgeräten, einstieg, müssen wir hier offenlassen. Die Ägide liegt zu lange zurück, und fest steht nur eines: Der Mann hatte sich nicht von Anfang an in dieser Branche betätigt, im Gegenteil, viele Jahre war er als Handelsvertreter für eine in Villach ansässige Süßwarenfabrik unterwegs gewesen.

Johann Josef Maiernigg war Dilettant, was sein späteres Wirkungsgebiet anging.

Wie gut erinnerte sich der Sohn, Kurt, denn auch später noch, als er längst ein Mann von Namen und Einfluss war, der Erzählungen des Vaters: »Was glaubst, wie brav ich neben der Budel hab’ warten müssen, in diesen Klitschen, bis der Herr Greißler seine Kundschaft erst einmal abgefertigt hat? Was da nicht getratscht und Leute ausgerichtet wurde! Ich war ja ein Mensch zweiter Klasse, ich wollte nichts kaufen, sondern etwas loswerden.«

In den Erzählungen des Vaters spielten endlose Autofahrten bei Glatteis eine wichtige Rolle, Auseinandersetzungen um die Provision nahmen breiten Raum ein – »Der Außendienstler ist der Busenfeind des Innendienstlers!« –, trostloses Warten auf Bummelzüge in verlassenen Haltestellen, aber auch flott eingefädelte Nebengeschäfte mit Werbekugelschreibern und Abreißkalendern zum Jahreswechsel kamen vor. Vater Maiernigg gefiel sich darin, sich als Verlierer hinzustellen, aber nur zu dem Zweck, um seinen Endsieg über die Verhältnisse dann noch strahlender und großartiger erscheinen zu lassen.

Das Leben wurde leichter, als er sich entschloss, in Klagenfurt, Provinzhauptstadt und Verwaltungsmittelpunkt, einen Laden für Haushaltsbedarf zu eröffnen.

Er fing mit Nudelwalkern an, mit Sieben, Besteck und Faschiermaschinen, mit Gläsern zum Einrexen von Obst und Gemüse, mit Schneebesen. Bald aber wurden elektrische Geräte, die damals im Aufkommen waren, zum Schwerpunkt: Mixer, Staubsauger und Waschmaschinen bildeten die Vorhut jenes Siegeszuges, der dann mit dem Fernseher, unabdingbar für jeden anständigen Haushalt, seinen vorläufigen Höhepunkt finden sollte.

Naturgemäß sah Johann Josef Maiernigg sich bald ständig wachsender Konkurrenz ausgesetzt, war er doch nicht der Einzige, der begriff, was noch kommen sollte. Er war aber der Einzige, der entschlossen und angemessen auf die Lage reagierte.

Bald konnte man landauf, landab an jeder Hausmauer, auf jedem einsam dastehenden Heustadel seine marktschreierischen, mit klobigen Lettern bedruckten Plakate lesen: MAIERNIGG, DER PREISSCHRECK.

Das Programm wurde zum Begriff: radikale Verbilligung des Angebots, laufend Sonderaktionen, dazu Ratenkauf, wo nur wenig Bares vorhanden war. »Der kluge Mann weiß, wofür er Schulden macht!« Die Geschäfte zogen rasch an, die Lager füllten und leerten sich, füllten und leerten sich, nach dem Gesetz einer Dünung, dem Gesetz von Ebbe und Flut.

Kurt, der Sohn, wurde erst in jene Spätzeit hineingeboren, als sich ein Ende des väterlichen Triumphzuges schon abzuzeichnen begann: Anbieter aus Deutschland und Italien hatten den Billigsektor für sich entdeckt und fingen an, ihr Angebot preisgünstiger auch in den entlegensten Markt noch hineinzudrücken. Die aufkommende Motorisierung begünstigte die Errichtung von Einkaufszentren. Bald wurden gewaltige Hallen ins Umland der Städte gestellt, die Ware wurde nicht länger an die Konsumenten herangekarrt, umgekehrt kamen sie selbst. Es war genau die Ära, als für viele Familien die Wochenendfahrten in irgendwelche Einkaufswelten zur Pflicht wurden, vergleichbar nur der früheren Gewohnheit, zur Kirche zu gehen. Dort ließen sie ihr Geld.

Johann Josef Maiernigg war der Entwicklung insofern um die berühmte Nasenlänge voraus, als er begann, sein Kapital in Immobilien umzuschichten. Der Hunger der in den Markt drängenden Kettenläden nach geeigneten Grundstücken war groß. Dörfer und Städte wuchsen. Es kam nur darauf an, geeignete Grundstücke schon vorher in die Hand zu bekommen. Bald darauf konnte man sie mit sattem Gewinn wieder weiterverkaufen.

Maiernigg wandte sich solcherart, könnte man sagen, von den Dingen, die real und greifbar sind, immer mehr ab. Er orientierte sich zum Handel mit Aussichten hin, zum Geschäft mit Versprechen und Hoffnungen, mit der bloßen Möglichkeit auf Erfolg.

»Sieht nicht übel aus«, sagte er nebenher zum Sohn. Von klein auf nahm er den, wenn es sich nur irgendwie einrichten ließ, auf seine Besichtigungsfahrten mit. Der Alte im herkömmlichen Trachtenanzug, den er sein Leben lang nicht ablegen sollte, mit gesticktem Wams und grobem Schuhwerk, der Kleine fein und städtisch herausgeputzt neben ihm: Der Vater wies durch die Frontscheibe des großen Wagens, den er sich zugelegt hatte, etwa auf eine verrottende Wiese hin, irgendwo am Stadtrand, in der Bahnhofsgegend, bei den Müllhalden, hinter denen, gleichsam als letzte Begrenzung, die Ruinen von vor Zeiten bankrott gegangenen Fabriken und Gewerbebetrieben vor sich hinwesten.

»War einmal ein toller Laden«, bemerkte er, auf die schief und zerbrochen in den Himmel ragenden Dächer deutend, zu den löchrig dastehenden Mauern.

Vor der guten, alten Zeit, in der noch mit den Händen gearbeitet wurde, empfand der Alte den herzlichsten Respekt, der ihn aber nicht daran hinderte, entschlossen an ihrer Demolierung und Umwertung mitzuwirken.

»Die meisten sind doch nur Trottel, Falotten und Idioten«, erklärte er beiläufig dem Kind, »Gescheite gibt’s halt nur wenige auf der Welt.«

Er konnte rücksichtslos sein, der alte Maiernigg. Wenn er auch, seiner festen Überzeugung nach jedenfalls, doch ein guter Mensch war, zumindest ein ehrlicher Kaufmann.

»Pass auf! Sei vorsichtig! Wenn die ganze Bagage im Grund auch keinen Pfifferling wert ist.«

Abseits der Geschäfte war der Alte mürrisch und verdrossen. Hatte keine Freunde, kaum Umgang. Das meiste behielt er für sich.

Lichtblick in der Welt des kleinen Kurt war folgerichtig die Mama, eine noch junge Frau, eine der Tippsen aus der Firma, die Maiernigg, man muss es so sagen, sich kurzerhand ausgesucht hatte. Nein, er hielt sie nicht knapp, seine Gattin, er beschenkte sie reichlich, putzte sie heraus. Er sah ihr allerhand nach, wenn sie Dummheiten machte, wie er es nannte, also Geld verschwendete oder den Sohn, das gemeinsame Kind, verzärtelte. Er schüttelte dann bloß den Kopf, wandte sich fort und wieder seinen Geschäften zu.

Der kleine Kurt war ein aufgewecktes Kind.

»Wie merkt man denn, dass eine Chance eine Chance ist?«

»Indem man zugreift.«

Die Erläuterungen des Alten waren kurz und bündig. Gelegentlich fragte er nach und lachte über die Antworten des Kindes. Seine Lehren ausführlich zu erörtern oder gar ihnen zu widersprechen, war unausdenkbar. Wie gebannt saß der Junge da, froh darüber, überhaupt dabei sein zu dürfen. Natürlich, er wollte sich die Zuneigung des Vaters erhalten und sichern. Er schwieg also und passte auf. Es wäre daher nicht ganz falsch zu behaupten, dass der Alte dem Sohn auf seine Art einen Grundkurs in angewandter Lebensweisheit zukommen ließ, was er eben für derlei Weisheiten hielt.

Von Zeitungsfetzen und zerbrochenem Glas gesprenkelte Felder an Bahndämmen entlang, versumpfte Wiesen an Flüssen oder Bächen, von Lärm und Dreck überstaubte Areale an Autobahnen, heruntergewohnte Stadtviertel, dort lagen die Hoffnungsgebiete des alten Maiernigg, dort machte er sein Geschäft.

Tat sich in der Seele des Jungen ein Zwiespalt auf? Widerstrebte da etwas? Hatte der Alte vielleicht doch nicht immer recht? Äußerlich war von solchen Einwänden oder Bedenken nichts zu bemerken.

Je älter er wurde, desto verstockter und stiller, ja ganz und gar unzugänglich und unbelehrbar wurde der Alte. Zum Glück schlug ihm sein Erfolg jedenfalls nicht aus. In der Firma gefürchtet, wenn auch respektiert und angehimmelt, war er im Grund genommen vollkommen allein. Seine Frau ließ er nur im Bett noch gelegentlich an sich heran, im Übrigen kam sie bloß noch randweise oder anekdotisch in seinem Leben vor. Meist war sie ihm Ärgernis, mit ihrem Geplapper, ihrem Fimmel nach Mode, Zerstreuung und Gesellschaft. – »Wozu gibt’s überhaupt Weiber auf dieser Welt?« – Da lachte er. Zwar soff er nicht, wie gelegentlich und bösartigerweise behauptet wurde. Die angelebte Sparsamkeit, sein Geiz, wurde dadurch nur schlimmer. Neider gab es genug, Feinde zuhauf: So konnte er sich laufend bestätigen, was ohnehin Überzeugung bei ihm war.

Was Kurt anging, machte er wohl eine Ausnahme, eine große sogar: Er sah den Jungen gern. Beim gemeinsamen Abendessen, wenn es denn einmal dazu kam, der Alte war jetzt viel unterwegs, im ganzen Land, nach Wien hinaus, nach Italien, nach Ungarn, beim Essen nahm er den Sohn manchmal beiseite und fragte ihn nach der Schule aus: Wie denn seine Noten seien? Ob er schon wisse, was er werden wolle? Ob er denn einen besonderen Wunsch für den Geburtstag oder für Weihnachten habe?

2. Die Stadt Klagenfurt liegt nicht direkt am Wörthersee, grenzt aber ein Stück weit daran. Die Maierniggs wieder bewohnten zwar ein stattlich hingesetztes Haus mit Holzbalkonen, einer breit geschwungenen Auffahrt und, auf dem First oben, einem Glockentürmchen samt Kupferdach, allerdings nicht Richtung See gelegen, sondern in einem sich erst entwickelnden Stadtviertel im Osten. Eine wenig ansprechende, eine eher fragwürdige Gegend. Den Bäumchen am Straßenrand sah man an, dass sie unlängst erst gepflanzt worden waren. Zwischen den schon bestehenden Häusern lagen leere Parzellen. Weiter hinter erstreckten sich verwilderte Grundstücke, sie standen im Besitz des Alten, er ließ sie zwecks späterer Verwertung mit Bauschutt auffüllen.

Wen wird es da wundern, dass der an die Stadt angrenzende Wörthersee mit seinen sich herschmiegenden Stränden und Buchten, den sich in seinen Wassern spiegelnden Hotels, den weißen Villen, die an den Ufern entlang und über die Höhen des Hügellandes dahinter sich auszubreiten begannen, für Kurt zur Wunderwelt wurde? Von dort her betrachtet, von den Yachthäfen und Ansitzen, den Restaurants und Klubs, den dazu passenden Bars und Discotheken, nahm sich das Haus Maiernigg, der ganze Stil der Familie einfach trostlos aus. Zwar lud Mama ja immer wieder ganze Gesellschaften ein, sie wurde auch im Gegenzug selbst eingeladen, zu der einen oder anderen Sache – aber doch nur ihres Geldes wegen, wie der Sohn bald herausbekam. Natürlich hatte sie ein Abonnement im Theater, sie ließ sich ihre Kleider aus Wien kommen, war Mitglied erst im Tennis-, später im Golfklub. Du liebes bisschen, wie der Sohn später bei sich dachte, da kann sie noch so sehr hinterherlaufen, das bringt nichts.

Eine Art von Spannerperspektive war es, als würde er durch die Gitterstäbe eines Käfigs durchschauen, die den jungen Maiernigg mit jener schöneren Welt verband.

Der See mit seiner gelassenen, wie es schien, vollkommen selbstsicheren Präsenz, musikalisch eingefasst von Wäldern und Wiesenstücken, von edlen Gebäuden flankiert, dessen Spiegel bald einmal im Sonnenlicht glänzte, unter der Last des Sommers sich rekelte, unter Regenschlägen dunkel sich aufwarf, kraftvoll und wild, unter Nebelschwaden flüsterte, im Winter weithin mit der Weiße seines Eisbelags leuchtete – die schiere Allgegenwart und Fülle, die gewaltige und doch wieder schlichte Fraglosigkeit beeindruckten Kurt. Wäre er philosophisch begabt oder auch nur angehaucht gewesen, er hätte vielleicht gesagt: »Offenbar gibt es die Macht. Und die Macht glänzt. Wo keine Macht, dort kein Glanz. Wo aber Glanz, nun, da wird die Macht nicht weit sein.«

3. Es war nach einer Rennveranstaltung, dem jährlich veranstalteten Springreiten mit internationaler Besetzung, erklärter Höhepunkt der Saison: Kurt, schon angehender Student um diese Zeit, hatte bei einer Cateringfirma angeheuert, um nebenher ein wenig Taschengeld zu verdienen. Er hätte das natürlich nicht nötig gehabt. Immerhin bedeutete es ein kleines Stück Freiheit und Selbstständigkeit. Zwar hätte der Vater ihn lieber in der eigenen Firma gesehen, als Praktikant, es freute ihn aber doch, dass der Bub anpackte. Vielleicht war er sogar ein wenig stolz auf ihn, auf Kurt?

Da lief er nun, Kurt, in seinem tadellosen, weißen Kellnerjackett, mit den weißen Handschuhen, und trug Speisen und Getränke aus. Ein lauer Sommerabend, die Rennen waren vorüber, der Sieger, ein kleingewachsenes, hüpfendes Männchen mit seinem Reithelm, kam, umgeben von einem Schwarm von Verehrerinnen und Verehrern, lässig zwischen den Tischen her.

Die Gesellschaft bevölkerte eine Wiese am See, die sanft gegen das Ufer hin abfiel. Wald, der jetzt dunkel stand, umrahmte den Festplatz.

Die Sterne am Himmel waren längst aufgegangen und brannten dort oben mit der ihnen eigenen Beharrlichkeit. Der Nachtraum war riesig. Eine Kapelle spielte zum Tanz auf. Gäste in Smoking und Abendkleid. Die Musik, oder besser die Fetzen davon, die zu Kurt herüberwehten, sie reichten mit ihren Fransen und Enden noch nicht einmal groß über die Bäume hinaus, die ringsum einen schwarzen Wall bildeten.

Der ganze Rummel enttäusche Kurt.

Wo war er selbst? Welche Rolle spielte denn er?

Als er, das Fest war zu Ende, die schmutzigen Teller und leeren Flaschen abräumte, war er einfach nur hundemüde. Ein Herr, ein letzter Gast, trat, ein Glas in der Hand, auf ihn zu.

»Gibt’s noch was?«, fragte er aufgeräumt.

»Aber gern«, antwortete Kurt scheinfreundlich.

»Sie sind doch der Sohn vom alten Maiernigg?«

»Ja und?«

4. In den letzten Jahren am Gymnasium schon hatte Kurt sich für die Tourismusbranche entschieden gehabt: Hotelier, Disco- oder Beachklubbetreiber, Reiseveranstalter oder etwas in der Art wollte er werden. Die Leute wollen doch Spaß haben! Aber nicht hier in Kärnten, am Wörthersee, wollte er einsteigen, nein, seine Phantasien griffen viel weiter aus, er bestürmte den Vater, ihn nach den USA, nach Florida, am besten gleich nach Las Vegas gehen zu lassen. Die Namen berühmter Luxushotels waren für den Jungen Litanei. Da berauschte er sich: The Galaxy, Golden Eagle, The Morning Glory, Imperial Star, Flyin’ Arrow. Aber nichts da! So einfach wollte der Alte den Sohn nicht ziehen lassen. – »Steig doch bei mir ein, Kurt!« – Immerhin, vorausschauend und abgebrüht, wie er war, finanzierte er Kurt parallel zum Studium einschlägige Kurse in den renommierten Instituten der Branche. Auf die Art verbrachte der ein, zwei Semester im Ausland. Über Vermittlung des Vaters, widerstrebend sah er ein, dass in dem Punkt einfach nichts zu wollen war, landete der Heimkehrer bei der heimischen Fremdenverkehrsagentur, einer halbstaatlichen Einrichtung. Die Kontakte des alten Maiernigg zur Politik waren immer schon nicht die schlechtesten gewesen. Er konnte, weiß Gott, einiges bewegen.

Zwischen dem dank seiner fundierten Ausbildung rasch Fahrt aufnehmenden Sohn und dem Vater kam es zu einer für beide Seiten ersprießlichen Zusammenarbeit: Der Junge ließ dem Alten Informationen aus erster Hand zukommen, verschaffte ihm so den einen oder anderen Vorsprung. Der Alte kaufte mit Elan jene Liegenschaften auf, für die eine Aufschließung und Entwicklung ins Auge gefasst waren. Angedachte Umwidmungen verliehen der Sache zusätzliches Potenzial. Der Alte brauchte die Grundstücke dann bloß an die jeweiligen Projektwerber weiterzureichen.

Man kann sich leicht vorstellen, dass dieses Zusammenwirken über kurz oder lang böses Blut erzeugen musste, dass allerhand Gerüchte und böses Gerede über die Maierniggs bald in Umlauf kamen. Der Abgang von Kurt nach Wien, ein Ruf zu höheren Aufgaben hatte ihn erreicht, beendete gerade rechtzeitig diese Ära.

VERWORRENE VERHÄLTNISSE

1. Von putzigen Einfamilienhäusern begleitete Straßen, die unversehens am vielfingrigen Gleiskörper der Westbahn enden, Wohnblocks überragen Luxusvillen, Autobahnzubringer überbrücken romantische Spazierweglein, Schlösser und Klöster mit ihren Parks finden sich von Schrebergartenkolonien eingekreist, ein Fußballstadion mit seiner gelegentlich überkochenden Schüssel steigt zwischen Großhandelsmärkten auf, der Wienerwald grüßt: Die Hütteldorfer Vorstadt hat etwas Abruptes.

Es war in einer dieser zur Westbahn hinunterführenden Straßen, dass dem Buchhalter einer Getränkehandelskette von seiner dem Haushalt vorstehenden Frau spät, sehr spät, ein Mädchen geboren wurde. Das scheue, nicht besonders hübsche Kind, ein Rotschopf übrigens, wuchs also in dieser Umgebung heran, in der sich die Rufe der Arbeiter von den Umschlagplätzen an der Bahn und das Schnurren der Schnellbahngarnituren und Eilzüge mit den Stimmen von Amseln und anderen Singvögeln, aber auch mit dem Geklingel einer am oberen Ende der Straße vorbeifahrenden Straßenbahn verbanden. Die ersten Jahre war das kleine Mädchen fast immer allein: Die Mutter hatte ein Auge darauf, dass es nicht vors Haus und damit unter die Gassenjungen geriet, die, von der latenten Anarchie angezogen, wie sie um Bahnanlagen und ihre Anrainer stets herrscht, die Gegend unsicher machten.

»Bleib nur schön herinnen!«, ermahnte die Mutter das Kind. Als ob das nötig gewesen wäre! Der kleinen Gisela, offenbar von ihrer Erbmasse her und also von Geburt an ein verschlossenes, selbstgenügsames, nach innen orientiertes Geschöpf, fiel es die meiste Zeit kaum auf, dass es in einer sie umgebenden Welt lebte, dass es da etwas Äußeres, nicht in einem selbst Begründetes gab: Alles war innen. Sie spielte in dem kleinen Vorgarten des Hauses, zog dort mit einem Stöckchen die Striche zum Tempelhüpfen, fütterte den Sittich, den man ihr samt Käfig zum Geburtstag geschenkt hatte, oder richtete ihre Puppenküche immer aufs Neue ein. Einmal, es kam wirklich nur ein einziges Mal vor, schnitt sie einen sich ringelnden Regenwurm mit einer Glasscherbe mitten entzwei. Das geschah ohne jedes Überlegen, blitzartig, in einem Moment reiner Grausamkeit: Die Mutter entdeckte es durchs Fenster, eine schallende Ohrfeige war die Folge.

»Jetzt bauen die Sozis schon wieder einen ihrer Gemeindebauten hier in der Gegend! Ich hab’s im Bezirksanzeiger gelesen«, berichtete die Mutter etwa ihrem Mann, wenn der, aus dem Geschäft heimgekehrt, mit unterwürfig oder auch verstockt gesenktem Kopf und jedenfalls stumm seine Suppe löffelte.

Herr Stern oder Sternchen, wie er in der Firma von der Chefität gerufen wurde, war ein Mensch, der es sich längst angewöhnt hatte, sich selbst gleichsam durch ein umgedrehtes Fernrohr zu sehen. Von seinem Vater, einem gewesenen Hauptschullehrer, zum Gehorsam erzogen, hatte er diese Tugend so kapital entwickelt, dass sie ihm zum Laster wurde: Es machte ihm geradezu Freude, aus der Position des Übersehenwerdens den Fehlern und Dummheiten der anderen zuzuschauen. Eine Art Triumph war es für ihn, von unter den über ihm schwebenden Schuhsohlen der Mächtigen heraus ihre unvermeidlichen Niederlagen mitzuverfolgen. Rein äußerlich hatte der Mann etwas von einer verstaubten, in einem Winkel vergessenen Zimmerpflanze. Eben im Beiseitestehen fand er sein Glück.

»Immer teurer wird alles, immer teurer! Also, wenn ich einkaufen gehe, da kann ich mich noch so viel umschauen … ein Skandal ist das!«, beschwerte sich Frau Stern über das Abendbrot weg.

Herr Stern, dem es auf der Zunge gelegen hatte, zu erklären, da müsse man eben besonders klug disponieren, erwiderte lieber nichts, er sagte stattdessen: »Die Suppe schmeckt aber heute! Da ist dir ganz was Besonderes geglückt«, und er lächelte seine Gattin an.

In früheren Jahren hätte Frau Stern dieses Lächeln vielleicht angenommen als Eintrittsschein in die Räu me intimerer Vergnügen. Jetzt ging sie, längst war sie ein wenig grau und hager geworden, mit gelblichem Gesicht und dürftigem Haar, einfach darüber hinweg.

»Früher wär’ so was unausdenkbar gewesen!«

»Du meinst …?«

»Unterm Hitler?«, fiel die Frau ihm ins Wort. »Meine Mutter war doch Führerin beim Reichsarbeitsdienst!«

Herr Stern, dessen Lächeln vielleicht wirklich nicht ganz ohne Hintergedanken gewesen war, begann, wohl etwas verfrüht, bereits Hoffnung zu schöpfen.

»Schläft die Kleine schon?«, fragte er, er war spät von der Arbeit heimgekommen. War Gisela noch auf, das wusste er, wäre die Gattin von vornherein auf nichts eingegangen. »Schläft die Kleine schon?« war Passwort.

Was antwortete aber Frau Stern darauf?