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Adolf Holl

Wie gründe ich eine Religion

Residenz Verlag

Inhalt

Wenn sonst nichts hilft

Beim Frisör | Ganz allein | Kindheitserinnerung | Lesefrüchte | Fluchtversuche | Zu viel versprochen | Hin und zurück | Die gute Meinung

Im Mittelpunkt

Ein wenig Philosophie | Mystik für Anfänger | Oculi omnium | Ein wenig Mathematik | Seelentrost

Der Vorteil, geboren zu sein

Beim Arzt | Halb so wild | Unter den Frauen | Zur richtigen Zeit | Alle sechs Sekunden verhungert ein Kind

Auch das Gegenteil ist nicht wahr

Lachen verboten | Was ist Auf klärung? | Wittgensteins Wien | Was ist Religion? | Unter uns Neurotikern | Die Richtung des Lebens

Absolute Gewissheiten

Am Steinhof | Fremdwörter | Gründerzeit | Der Untergang des Abendlandes | Feuer!

Wie du bist

Nach der Premiere | Im Schlafzimmer | Von Mund zu Mund | Privatoffenbarungen | Traurig, aber wahr

Aber etwas fehlt

In der Klosterbibliothek | Gespräche mit dem Kardinal | Wunschlose Absicht | Ein Rat aus der Ferne | Im Reisebüro

Nichts für Kinder

Familienstand | Kleine Anarchisten | Hört ihr die Kinder weinen | Hänsel und Gretel | Erinnerungslücken | Auszählreim

Schweigepflicht

Im Fernsehen | Zukunftsaussichten | Schleiertänze | Die abweichende Mehrheit | Schmutziges kleines Geheimnis | Ein gutes Zeichen

Kosmopolis

Ein wenig Geographie | Boutique oder Warenhaus | Führerbefehl | Land des Lächelns | Angebot und Nachfrage | Einkaufsbummel | Im Vertrauen gesagt

Ferien vom Ich

Stilles Vergnügen | Im Gebirge | Pom-Pom | Privatissimum | Kindergebet

Baubeginn

Beim Architekten | Mehr als genug | Aber nein, aber nein sprach sie | Wie nach Plan

Lebenshilfen

Seelsorge ohne Gott | Saturn im ersten Haus | Selbstverwirklichung

Zimmer, Küche, Kabinett

Unbedingt notwendig | Trommeln, Tanzen, Singen | Ungemein fesselnd | Höllenangst | Verlustanzeige | Andachtswinkel | Besenrein | Der schönste Satz der Bibel

Ins Freie

Unter Beobachtung | Blutwirtschaft | Willst du vollkommen sein? | Mayerling | Ich bin so frei

Einer für alle

Drei Sterne im Michelin | Siegeszeichen | Vor Gottes Thron | Dio solo basta

Liebesquell

Ein wenig Theologie | Ein wenig Neurologie | Morgenturnen | Alle guten Geister | Komponist und Kardinal | Ein wenig Psychologie

Namenlos glücklich

Die gute Meinung (Fortsetzung) | Ohne Vergangenheit | An und für sich | Ein wenig verrückt | Mein vorletzter Wille

Anmerkungen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2015 Residenz Verlag

im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN eBook:

978-3-7017-4507-4

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1518-3

In einer dunklen Nacht
verschwand ich ungesehen
auf der geheimen Leiter
aus jenem stillen Haus
und ließ dort alles was mich traurig macht
ganz einfach stehen.

Johannes vom Kreuz

Wenn sonst nichts hilft

Beim Frisör. Haarausfall schon seit Jahren. Buddha ist im Wald verschwunden, Jesus in die Wüste gegangen, Mohammed in der Höhle gehockt. Bitte ganz kurz schneiden. Wie kurz? Wie eine Glatze. Ich bin dabei, eine Religion zu gründen. Meine Religion.

Ganz allein. Hin und wieder bemerke ich im Traum beim Schwimmen, dass es plötzlich Nacht geworden ist. Nur in der Ferne ein paar Lichter am Ufer.

Kindheitserinnerung. In die Kirche gehe ich nur wegen der Musik, hat die Großmutter gesagt. Was die Pfarrer machen, ist Hokuspokus.

Lesefrüchte. Die Religion war mir seit langem zuwider, und trotzdem spürte ich auf einmal die Sehnsucht, mich auf etwas beziehen zu können. Es war unerträglich, einzeln und mit sich allein zu sein. Es musste eine Beziehung zu jemand anderem geben, die nicht nur persönlich, zufällig und einmalig war, sondern in der man durch einen notwendigen, unpersönlichen Zusammenhang zueinander gehörte (Peter Handke). – Beckett will uns zu verstehen geben, dass wir zu erschöpft sind, um Godot wirklich zu brauchen. Warum kommt er nicht, der andere? Vielleicht heißt er ja Godin oder Godard. Oder er hat sich verspätet, ist aus dringenden Gründen aufgehalten worden, wenn er nicht gar im Wirtshaus sitzt oder unsere Adresse verloren hat. Uns geht jener buchstäblich verrückte Starrsinn ab, der allein in der Lage wäre, aus uns einen dringlichen Fall zu machen. Godot sagt sich: Es hat keine Eile, ich werde vorbeikommen, wenn ich meine Angelegenheiten erledigt habe. Oder unsere Rufe waren so schwach, dass er sie ganz einfach nicht gehört hat (Jean-Paul Sartre).

Fluchtversuche. Ein beliebtes Gemurmel, entstanden in Asien: Buddham saranam gacchami, dhammam saranam gacchami, sangham saranam gacchami (dhamma = Lehre, sangha = Gemeinde, saranam gacchami = ich nehme Zuflucht). An die Stelle Buddhas kann, wie früher im katholischen Bayern üblich, eventuell die allerheiligste Dreifaltigkeit treten, in Begleitung der Gottesmutter, der Erzengel, der Heiligen und der armen Seelen im Fegefeuer. Kurzum: Wir sind auf der Flucht. Wenn sonst nichts mehr hilft, nehmen wir unsere Zuflucht zur – Religion.

Zu viel versprochen. Keine Religion ohne das Versprechen eines erreichbaren Ziels aller Fluchtversuche. Deshalb die ständigen Hinweise auf jene, die das Ziel erreicht haben – Erleuchtung, Seelenfrieden, ewiges Leben. Aber der Teufel schläft nicht, wie ein Blick in die Kriminalgeschichte des Christentums oder des Islam lehrt. Auch in den unschuldigsten Anfängen steckt ein Wurm. Und schon ist der Gedanke da, einen Neuanfang zu versuchen. Gegenwärtig werden täglich zwei oder drei Religionen gegründet, vornehmlich in Afrika und Asien. Oft handelt es sich dabei um kurzlebige Vereinigungen mit einem Anhang von ein paar hundert oder tausend Frommen, es kommt zu Abspaltungen, der Organisationsgrad ist niedrig. Aber es kann auch unter der Führung besonders energischer Persönlichkeiten zu Kirchenbildungen mit erstaunlich hohen Zuwachsraten kommen, missionarisch erfolgreich, international vernetzt, mit vollen Kassen. Alles in allem lassen sich 9900 religiöse Vereinigungen zählen, meint der Herausgeber der World Christian Encyclopedia. Tendenz steigend.

Und es wäre ja irreführend, die ultrastabilen Zufluchten der sogenannten Weltreligionen Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam als Blockbildungen aufzufassen. Unter ihren Dächern hausen jeweils Hunderte Kirchen, Sekten, Minderheiten, Geheimgesellschaften, alte und neue, pazifistische und terroristische, häufig untereinander notorisch zerstritten, fundamentalistisch oder liberal unterwegs. Um das gesamte Angebot durchzuprobieren, sagen wir eine Religion im Monat, müsste ich mindestens 800 Jahre alt werden.

Und dann? Dann bin ich viel zu müde, mich für eine bestimmte Religion zu entscheiden. Dann möchte ich nur noch meine Ruhe haben.

Hin und zurück. Die bequemste Methode, den Wert einer Religion zu bestimmen, ist die Prüfung ihrer Einnahmen. Das Heiligtum in Tirupati (Andra Pradesch, Indien) nimmt täglich im Durchschnitt 350 000 Euro an Geldspenden ein. In den Schatzkammern des Tempels lagern 10 Tonnen Weihegeschenke aus purem Gold. Von solchen Reichtümern kann selbst der Vatikan nur träumen.

Nach Tirupati gelangt man über Madras. Aspirin sollte dabei sein, es besteht Erkältungsgefahr, trotz des heißen Klimas. Das Standbild der Gottheit Venkateschvara hat einen Schild vor Augen, Nase und Mund, um die Pilgerscharen nicht zu gefährden. Über das Alter des Gnadenorts lässt sich streiten. Dass die dort praktizierte Religion schon da war, ehe Buddha, Jesus, Mohammed auftraten, ist sicher. Der französische Missionspriester Jean Antoine Dubois (gest. 1848) hat beschrieben, was in Tirupati Sache war. Kinderlos gebliebene Frauen übernachteten im Heiligtum und wurden von Venkateschvara heimgesucht, in Gestalt eines seiner Diener. Venkateschvara gilt als eine der tausend Erscheinungsformen Vischnus. In Tirupati sollte man sich nicht zu lange aufhalten. Hauptsache, man verfügt nach der Heimkehr über einen lebhafteren Religionsbegriff.

Die gute Meinung. Es gibt mich kein zweites Mal. Eines Tages wird mein Leben aufhören, aber ich will auf gar keinen Fall, dass es durch den Tod vergiftet wird.