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Judith Brandner

Japan

Inselreich in Bewegung

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Lektorat: Ingrid Getreuer-Kargl

ISBN ePub:

978 3 7017 4614 9

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3489 4

Inhalt

Vorwort

Öffnung und Aufbruch in die Moderne

Die »Schwarzen Schiffe« – Japans erzwungene Öffnung

Aufbruch Japans in die Moderne mit großer Besetzung. Der Besuch der Iwakura-Gesandtschaft im Westen

Großstadtsplitter

Großstadtsplitter I. Eine junge Frau will die Welt verändern und fängt im Bezirk Suginami in Tōkyō an

Großstadtsplitter II. Wenn die Generation der Working Poor Kinder bekommt

Fukushima

Fukushima Visited and Revisited. Tagebuchaufzeichnungen, Notizen und Gedanken zu einer andauernden Katastrophe

Strahlenfutter (© Robert Jungk) – Arbeiter in japanischen Atomkraftwerken

Verschwindet Japan? Die fatale Demografie

Meine japanische Großmutter und die umgekehrte Bevölkerungspyramide

Mihoko macht Karriere und verlässt die »Lost Generation«

Hiroshima

Der Tag Null

Ein Lehrauftrag mit Folgen – Yui und Yoshie

Die Geschichte hätte auch ganz anders verlaufen können – das japanische Atombombenprogramm und die Versuche, die Geschichte zurechtzubiegen

Landsplitter. Leben auf dem Land und unter dem Vulkan

(K)ein ganz normales Land mit (k)einem normalen Heer

Wir geben nicht auf! Die Unbeugsamen von Okinawa

Gibt es überhaupt eine japanische Kultur? ›Närrische Gedanken‹ des japanischen Intellektuellen Katō Shūichi

Die Schrecks in Japan. Die Geschichte einer deutsch-österreichischen Einwanderer-Familie

Das war Heisei – Bilanz einer Ära

Dank an

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Vorwort

Was der größte Kulturschock sei, auf den sie sich auf ihrer ersten Japanreise einstellen müssten, fragte mich ein junges Pärchen. Wir waren am Ende einer Gesprächsführung durch die Ausstellung Japomanie im Kunstforum der Bank Austria in Wien angekommen. Meine Rolle bei dieser Co-Führung war es, als Kontrast zum traditionellen Japan einen kleinen Einblick in das heutige, moderne Japan zu bieten. »Dass Japan so hässlich sein kann!«, rutschte es mir heraus, und mit einem Blick auf die erschrockenen Gesichter der beiden jungen Menschen fügte ich dann hinzu: »Unsere Klischee- und Bilderbuchvorstellungen von Japan spiegeln nur einen kleinen Teil der Realität wider. Natürlich gibt es das schöne Japan mit alten Tempeln und Schreinen, wunderbaren Gärten, traditionellen Holzhäusern und Geschäften, grandiose und spektakulär schöne Landschaften, atemberaubende Architektur – modern wie traditionell, und vor allem ist da diese feine, vornehme und unglaublich achtsame Art der Menschen, miteinander umzugehen und die eigene Kultur wertzuschätzen. Daneben stößt man aber immer wieder auch auf vernachlässigte, hässliche Ecken – im eigentlichen wie im metaphorischen Sinn«. »Was meinen Sie konkret?«, fragen die beiden. »Wo Mensch und Umwelt auf Kosten des rasanten Wiederaufbaus nach 1945 auf der Strecke geblieben oder dem Primat des Wirtschaftswachstums und Neoliberalismus geopfert worden sind und werden«, sage ich, »oder die Politik, die so oft über die Menschen drüberfährt.« Und noch etwas: »Japan ist ein Land voller Widersprüche! Alles, was ich sage, stimmt und stimmt doch auch nicht. Jemand anderer würde Ihnen sofort das Gegenteil erzählen.« Die beiden Literaturnobelpreisträger kommen mir in den Sinn, die Japan im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Der eine, der Ästhet und Traditionalist Kawabata Yasunari, betitelte seine Nobelpreisrede 1968: »Japan, das Schöne und ich«; der andere, der linke, kritische und politische Autor, Ōe Kenzaburo, machte daraus 1994 in seiner Nobelpreisrede: »Japan, das Ambivalente, und ich«.

Wie den beiden jungen Menschen Japan schließlich gefallen hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Frage nach dem Kulturschock, in Zeiten der Globalisierung und weltweiten Vernetzung, von zwei jungen Menschen, die wahrscheinlich über Manga und Anime zu Japan gekommen sind, hat mir jedenfalls zu denken gegeben.

Wie kam es überhaupt zu diesem modernen Japan, das innerhalb kürzester Zeit an die Entwicklungen im Westen aufgeschlossen hat? Dieses Buch legt einen Fokus auf die einschneidenden Ereignisse, die das moderne Japan geprägt und zu dem Land gemacht haben, das es heute ist: die Jahrhundertereignisse. Im 19. Jahrhundert war dies die Öffnung Japans gegenüber dem Westen nach seiner mehr als 250-jährigen Selbstisolation. Die damit verbundenen Importe von Wissen und Kultur haben in der Meiji-Zeit zu einer Kulturerneuerung und zur Industrialisierung des Landes geführt. Vor allem auch die Auflösung des Ständesystems in der Meiji-Zeit hat Japan grundlegend verändert.

Die ersten Atombombeneinsätze in der Geschichte der Menschheit auf die beiden japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki waren mit dem Pazifischen Krieg DAS Ereignis des 20. Jahrhunderts in Japan, dessen Auswirkungen bis ins Heute reichen. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 begegnen uns in diesem Buch durch die Stimmen der letzten Überlebenden, der hibakusha, durch das Werk des österreichischen Journalisten und Friedensaktivisten Robert Jungk und zweier junger Frauen der Enkelgeneration, die in ihren Familien nachgefragt und erschütternde Antworten erhalten haben.

Die Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 schließlich war das Jahrhundertereignis des noch jungen 21. Jahrhunderts. Eine entsetzliche Mischung aus Erdbeben, Tsunami und nuklearem Man-Made-Disaster, die Japans Verwundbarkeit gegenüber den Naturgewalten, aber auch seine erstaunlich beharrliche Gläubigkeit an eine Technologie bloßgelegt hat; die nicht funktioniert, schon gar nicht in diesem erdbebenreichen Ambiente. Zum »unschönen, höchst ambivalenten Japan« gehört der Umgang mit den Betroffenen der beiden nuklearen Tragödien von Hiroshima und Fukushima durch Gesellschaft und Politik in den Jahren danach.

Wie kann ein Land, das zwei Atombomben erlitten hat, auf die Nutzung der Atomenergie setzen? Eine Frage, die seit der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 und dem Super-GAU in Fukushima immer wieder gestellt wird. Eine komplexe Geschichte, bei der ausgerechnet die USA, die die Atombomben gegen Japan eingesetzt haben, eine große Rolle spielen: Das Konzept der Atoms for Peace von US-Präsident Duke Eisenhower fiel in Japan mit tatkräftiger Unterstützung der USA auf fruchtbaren Boden. Man unterschied fortan zwischen dem »bösen Atom der Bomben« und dem »guten Atom der Atomkraftwerke«. Die ersten AKWs wurden von Konzernen wie General Electric oder Westinghouse errichtet. Übrigens auch Fukushima Daiichi.

Fukushima bewegt und beschäftigt mich seit der Stunde Null. Zwischen Herbst 2011 und Frühjahr 2019 habe ich die Präfektur Fukushima mehrmals bereist und mit den unterschiedlichsten Menschen gesprochen. Die daraus entstandenen Reportagen und Texte sind in verschiedenen Medien (Radio, Fernsehen, Zeitungen und Büchern1) erschienen. Einzelne Protagonist*innen habe ich mehrfach getroffen und die Entwicklung ihres Lebens seit dem Tag X bis heute mitverfolgt. Das lange Kapitel über Fukushima in diesem Buch ist denn auch eine persönliche Chronologie dieser großen Nuklearkatastrophe. In der Präfektur Fukushima wachsen die schwarzen Müllsäcke mit dem abgetragenen, verstrahlten Erdreich zu immer größeren Hügellandschaften heran. »Dekontaminieren und Rücksiedeln« lautet das Motto der Regierung, die alles daransetzt, dass die Reaktorkatastrophe möglichst bald vergessen wird, und wieder Normalität eingekehrt.

Als dieses Buch entsteht, rüstet Japan gerade für die Olympischen Sommerspiele in Tōkyō 2020. Dem nationalen Primat, sich als ein Land zu präsentieren, in dem »alles gut und alles in Ordnung ist«, wird vieles untergeordnet – offenbar auch die Vernunft. Dazu zählt für mich die Nachricht, dass der Ort Ōkuma mit April 2019 für die Rücksiedelung freigegeben worden ist. Ōkuma ist das Pripyat Fukushimas, der Ort, wo sich das havarierte AKW – in immer noch brandgefährlichem Zustand – befindet.

Auch die Hauptstadt Tōkyō soll für Olympia 2020 in neuem Glanz erstrahlen und die schäbigen Landesteile und das Katastrophenimage vergessen lassen. Nach und nach verschwinden in Tōkyō die alten, traditionellen Geschäfte, werden völlig neue Stadtviertel aus dem Boden gestampft, die überall auf der Welt stehen könnten. Die Spiele, mit denen Japan zur Tagesordnung übergehen will, polarisieren und radikalisieren. »Die Olympischen Spiele werden im nuklearen Notstand ausgetragen. Die Länder und die Leute, die daran teilnehmen, riskieren einerseits, sich selbst der Strahlung auszusetzen, und werden auf der anderen Seite Komplizen der Verbrechen dieser Nation.« Diese harsche Kritik, die aufhorchen lässt, stammt nicht etwa von linksradikalen Gegnern der Spiele, die hinter der Austragung neben rein kapitalistischen Interessen von Konzernen und Regierung in deren Sold Kriegsvorbereitungen der Regierung gegen China wittern, sondern von einem der führenden Atomphysiker der Nation, dem emeritierten Professor der Universität Kyōto, Koide Hiroaki2, der immer wieder gegen den enormen Einfluss der Atomlobby im Land aufsteht3.

Spätestens seit den 2000er-Jahren tut sich durch die einst so homogene Mittelstandsgesellschaft eine Kluft auf. Selbstmorde sind mittlerweile die häufigste Todesursache von Kindern zwischen zehn und vierzehn Jahren. Diese schockierende Nachricht vom März 2019 wirft die Frage auf: Was ist eigentlich los in der Gesellschaft?! Auch dieser Frage versucht das Buch nachzugehen, ebenso wie den Folgen des Zweiten Weltkrieges, wie sie sich auf Japans südlichstem Inselarchipel Okinawa immer noch manifestieren. Dort endete die amerikanische Besatzung erst 1972. Doch bis heute sind dort tausende amerikanische Soldaten auf US-Militärstützpunkten stationiert – gegen den Mehrheitswillen der lokalen Bevölkerung. Ein innerjapanischer Krisenherd von geopolitischer Brisanz. Okinawa, rund 1500 Kilometer von Nordkorea entfernt, ist für die USA strategisch überaus bedeutend. Zyniker sprechen vom »unsinkbaren« Flugzeugträger der USA. Der japanisch-amerikanische Sicherheitspakt von 1960, der die beiden Länder aneinander bindet, ist die Basis, auf der sich die Marines in Japan befinden.

Epochemachend ist in Japan auch die Inthronisierung eines neuen Kaisers, mit der jeweils eine neue Ära beginnt. Die traditionelle Zeitrechnung in Japan richtet sich nach der Amtszeit des Kaisers, die einen eigenen Namen erhält. Während der Arbeit an diesem Buch ist Jahr 1 der Ära Reiwa angebrochen. Akihito, der Kaiser der vorangegangenen Heisei-Epoche, war der erste im modernen Japan, der freiwillig abgedankt hat. Am 1. Mai 2019 hat sein Sohn Naruhito den Thron übernommen. Mit der Bezeichnung Reiwa, das mit den Schriftzeichen image und image geschrieben wird, hat man auf die älteste japanische Gedichtsammlung zurückgegriffen, das um 760 entstandene Manyoshū. Rei wird üblicherweise mit Befehl, Dekret assoziiert, wa mit Frieden, Harmonie und Japan. Unter Berufung auf die alte Quelle hat man diesmal jedoch eine andere Interpretation von rei gefunden: gut, fair. Reiwa bedeute, dass Japan ein Land sein möge, wo die Menschen auf »schöne« Weise zusammenlebten, mit dem Fokus auf traditionellen Werten, erklärte Ministerpräsident Abe Shinzo bei der Bekanntgabe. Die klügsten Köpfe des Landes diskutierten tagelang über eine mögliche sublime Botschaft von Reiwa. Ein Freund schrieb mir in den ersten Maitagen, Reiwa dominiere das Programm des staatlichen Fernsehens NHK. Er sei besorgt, dass Japan einen ultranationalistischen Kurs einschlagen könnte. Die Dinge sind kompliziert in Japan. Man wird sehen, wie sich die Reiwa-Epoche entfalten wird.

1Ö1, ORF 2; Bücher: Reportage Japan – Außer Kontrolle und in Bewegung. Picus Verlag 2012; Nachbeben Japan, Luftschacht 2012; Zu Hause in Fukushima, Kremayr & Scheriau 2014; Nukleare Katastrophen und ihre Folgen. 30 Jahre nach Tschernobyl, 5 Jahre nach Fukushima. Liebert, Gepp, Reinberger (Hrsg.), Berliner Wissenschaftsverlag 2016

2www.apjjf.org/2019/05/Koide-Field.html

3Siehe auch Judith Brandner: Außer Kontrolle und in Bewegung. Picus Verlag Wien 2012

Öffnung und Aufbruch in die Moderne

Die »Schwarzen Schiffe« – Japans erzwungene Öffnung

Es ist Mitte Juli und es hat 37 Grad. Hohe Luftfeuchtigkeit. Mushimushi oder mushiatsui, stöhnt man in Japan, und fächelt und tupft. Und dann bricht ein donnerndes Unwetter los: Kurofune ga kuru – die »Schwarzen Schiffe« kommen. Kommen in den Hafen von Yokohama, in die ehemaligen Dockanlagen, wo ein trendiges neues Stadtviertel entstanden ist. Die »Schwarzen Schiffe« werden in die Veranstaltungshalle »Lagerhaus aus roten Ziegeln Nr. 1«, Akarenga Ichigo-kan Sōko, gezogen, musikalisch angetrieben von Klavier und Stimme und Klarinette, umwogen von einer Tänzerin. Es ist eine künstlerische Performance zu einem einschneidenden und folgenreichen Ereignis in der Geschichte Japans. Kurofune, die fremden Schiffe mit den schwarzen Segeln, unter dem Kommando des amerikanischen Marineoffiziers Commodore Matthew C. Perry, gehörten zur Ostindien-Flotte der USA. Sie erzwangen Mitte des 19. Jahrhunderts die Öffnung Japans, nach seiner fast 250-jährigen Abschottung vom Rest der Welt.

2009, zum 150-Jahr-Jubiläum seiner Öffnung im Jahr 1859, hat die Stadt Yokohama die beiden japanischen Exil-Künstlerinnen Tawada Yōko und Takase Aki mit einer Darbietung beauftragt. Die Lyrikerin, Schriftstellerin und Sprachkünstlerin Tawada Yōko hat das Gedicht über die »Schwarzen Schiffe«, kurofune ga kuru, geschrieben, die Jazzpianistin Takase Aki hat es vertont. Begleitet werden sie vom französischen Klarinettisten Louis Sclavis und der japanischen Tänzerin Kawaguchi Yui. Die Performance »Spiegelbild – aus Yokohama« passt perfekt an diesen Ort. Yokohama war die erste Stadt in Japan, in der Jazz gespielt worden ist. Von hier aus hat der Jazz seinen Siegeszug über Japan angetreten.

Zwei erfolglose Versuche, mit den Japanern in Kontakt zu kommen, hatten die amerikanischen Schiffe in den 1850er-Jahren unternommen. Dann wurde Commodore Matthew C. Perry von seiner Regierung beauftragt, eine Expedition nach Japan zu unternehmen, um für die Amerikaner ein Handels- und Niederlassungsrecht in Japan zu erwirken. Mit vier Kriegsschiffen ging er am 8. Juli 1853 in der Bucht von Uraga vor Anker, nahe der damaligen Hauptstadt Edo, dem heutigen Tōkyō. Perry ließ den Japanern ein Jahr Zeit, zu entscheiden. Mit der Ankunft der »Schwarzen Schiffe« 1853 war die Endphase des Tokugawa-Shogunats (bakufu), bakumatsu, angebrochen und das Ende der Edo-Zeit (1600–1867) eingeläutet. Diese Periode dauerte bis zur Übergabe der Herrschaft vom Shogun an den Tenno, 1867.

1854 gewährte Japan den Amerikanern schließlich das Handels- und Niederlassungsrecht. Am 31. März 1854 unterzeichneten beide Seiten den Vertrag von Kanagawa. Die Häfen Hakodate und Shimoda wurden für die Amerikaner geöffnet. In Shimoda auf der gebirgigen Izu-Halbinsel durfte sich ein amerikanischer Konsul niederlassen – weit abgelegen und entfernt vom übrigen Japan. Hakodate, im Süden der Insel Hokkaido, an der Meeresstraße von Tsuruga, lag ideal für einen Zwischenstopp für die Dampferverbindung zwischen Kalifornien und China und als Zwischenstopp für die amerikanischen Walfangschiffe.4 Obwohl der Vertrag von Kanagawa kein Handelsvertrag war, wurde die Meistbegünstigungsklausel (Handelsvorteile, die einem Vertragspartner gewährt worden sind, müssen allen Vertragspartnern gewährleistet werden) mit niedrigen Zöllen darin aufgenommen. Nun gab es kein Zurück in die Isolation. England, Frankreich, Russland und die Niederlande erhielten bald ähnliche Privilegien.5

Die Herrschaft der Tokugawa war ein Feudalsystem mit strengen Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen, mit Zensur und Bespitzelung. Die Überwachung betraf vor allem die oberen Schichten der Krieger und Verwaltungsbeamten in den Städten. In den Dörfern sorgte die Dorfgemeinschaft für Kontrolle. Das Land war in Fürstentümer aufgeteilt, innerhalb derer die Fürsten große Autonomie hatten. Gleichzeitig war die Ära auch eine der längsten Friedensphasen im Land. Die lange Abschottung Japans von der Außenwelt führte zum Entstehen einer einzigartigen, autochthonen Kultur mit regional sehr unterschiedlichen Ausprägungen und formte den Charakter des Landes. Ohne das Wissen um die lange, selbstgewählte Isolation und die erzwungene Öffnung durch die »Schwarzen Schiffe« ist das moderne Japan nicht zu verstehen. Auch wenn heute niemand mehr in Japan beim Anblick von blonden Ausländer*innen erschrocken davonläuft oder mit offenem Mund stehen bleibt, wie es in ländlichen Regionen noch vor dreißig Jahren durchaus der Fall sein konnte, auch wenn Globalisierung und Internet Japan längst durchdrungen haben und Japan längst ein »ganz normaler westlicher Industriestaat« geworden ist, so bleibt das Inselreich in Ostasien doch in vielerlei Hinsicht bis heute yūniku, einzigartig. Und so manchem in Japan gefällt die Betonung der nationalen Einzigartigkeit durchaus.

Der Druck auf das Tokugawa-Regime war von außen und von innen gekommen. Ereignisse wie die Opiumkriege zwischen China und England im 19. Jahrhundert sorgten für Nervosität in der Region. Im Norden begannen die Russen den Fernen Osten immer mehr zu erforschen und drangen auf den – bis heute zwischen Japan und Russland umstrittenen – Kurilen-Inseln immer weiter nach Süden vor. Russische Schiffe kamen nach Japan und wollten Handelsbeziehungen aufnehmen. Amerikanische und englische Walfangschiffe wollten in Japan anlaufen, um Wasser an Bord zu nehmen oder Lebensmittel zu kaufen. Im Inneren des Landes sorgten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wirtschaftliche Verarmung der Fürsten, die steigende Unzufriedenheit von Samurais und Kaufleuten mit der unzeitgemäßen, konfuzianisch geprägten Politik des Shogunats sowie Hungersnöte als Folge von Ernteausfällen, Erdbeben und Seuchen für Destabilisierung. Es bildete sich eine zunehmende intellektuelle Opposition gegen das bakufu-Regime. Diese Faktoren führten schließlich zum Verfall der staatlichen Autorität und zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen.

Kurofune gakuru, kurofune ga kurukuru, kurofune ga kuru … das rollt und rollt und rollt und kommt bedrohlich näher, immer schneller, immer schneller, unaufhaltsam. »Perry hatte keine Erlaubnis von seinem Land, Japan militärisch anzugreifen. Die schwarzen Schiffe mit Kanonen wurden als Installation eingesetzt, die militärische Überlegenheit demonstrieren, aber nicht ausüben sollte. Es hat funktioniert. Heute noch klingen im Wort kurofune die Gefühle mit, die die schwarzen Schiffe bei den Japanern erregt haben könnten: Angst, Unruhe, Neugierde, Wissensdrang und der Ehrgeiz, selber ein größeres Schiff zu bauen«, schreibt Tawada Yōko in ihrem Text »Fremde Wasser«.6

Text und Musik haken sich ineinander wie ein Reißverschluss – so hat ein Kritiker einmal das Zusammenspiel der Jazzpianistin Takase Aki und der Schriftstellerin Tawada Yōko beschrieben. Die rhythmische Sprache Tawada Yōkos und Takase Akis charakteristischer Stil, mit dem sie das Klavier bearbeitet, treten in einen perfekten Dialog und wachsen zu einer symbiotischen Performance zusammen. Die weltberühmte Jazzpianistin und die preisgekrönte Lyrikerin haben einiges gemeinsam, trotz des Altersunterschieds von zwölf Jahren: Beide sind in Japan geboren, Tawada 1960, Takase 1948 in Ōsaka. Beide leben in Deutschland; Takase seit 1988; Tawada kam erstmals 1979 mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Europa und zog dann 1982 zunächst nach Hamburg, später nach Berlin. Beide sind in Deutschland zu einer künstlerischen Freiheit und Ausdrucksintensität gelangt, zu der sie wohl nicht gefunden hätten, wären sie in Japan geblieben, wie sie selbst sagen. Ende der 1990er-Jahre haben sie zueinandergefunden und treten seither immer wieder gemeinsam auf. In Tōkyō könne man viele Kulturen konsumieren, aber es gebe keine wirkliche Begegnung, meint Tawada Yōko, in Europa hingegen habe man viele Sprachen und Kulturen auf kleinem Raum. Tawadas Literatur ist einzigartig, weil sie in zwei Sprachen arbeitet – Deutsch und Japanisch, oft gemischt in einem Werk. Das Fremdsein in Kultur und Sprache ist zentraler Inhalt ihrer Texte. Sie sei die Dichterin der Befremdung, wie ein Kritiker einmal schrieb. Umso passender ist für sie das Thema der Öffnung Japans: »Dass ein Land zum ersten Mal mit einer Fremdkultur in Kontakt kommt, das ist mein Thema.« Auch die Pianistin und Komponistin Takase Aki bewegt sich in zwei Kulturen. Ihre musikalischen Wurzeln liegen in der europäischen Klassik, doch sie hat sich dem Free Jazz verschrieben und mit allen internationalen Jazz-Größen zusammengespielt: Alexander von Schlippenbach, Lester Bowie, David Murray, Rashied Ali oder Evan Parker, um nur einige zu nennen. 1981 wurde sie vom Jazz Festival Berlin eingeladen – und war begeistert von Europa. Europa biete ihr mehr Möglichkeiten und Freiheiten als das in mancher Hinsicht immer noch recht geschlossene Inselland Japan, sagt sie.

Und tatsächlich bekommt man manchmal den Eindruck, als müsse sich Japan erst der Welt öffnen. Wenn es etwa um die Aufnahme von Flüchtlingen geht (2019 bekamen 42 Menschen in Japan Flüchtlingsstatus zuerkannt, doppelt so viele wie im Jahr zuvor) oder um die Einwanderungspolitik (weniger als zwei Prozent der Bevölkerung sind Ausländer*innen, darunter ein nicht unbeträchtlicher Teil Koreaner*innen, die bereits in Japan geboren wurden). Allerdings dürfte unter dem Druck der demografischen Entwicklung und des Arbeitskräftemangels bei der Immigration einiges in Bewegung kommen. Bis 2025 will die Regierung eine halbe Million Facharbeiter*innen aufnehmen, vor allem in Pflegeberufen.

Weshalb sich Japan 250 Jahre lang von der übrigen Welt abgeschottet hat, ist bis heute nicht völlig klar. Zum einen setzte der Tokugawa-Clan alles daran, seine Machtposition im Inneren zu sichern. Ganz Japan sei ein Polizeistaat gewesen, in dem sich die Leute gegenseitig überwachten und zusätzlich von oben überwacht wurden, schreibt der Japanologe Sepp Linhart. Da sei es nur logisch, dass sich das Regime des Tokugawa-bakufu bald dazu entschloss, auch den Verkehr mit dem Ausland einzustellen oder auf ein Mindestmaß zu beschränken, um nicht von dort Unruhe in die von ihm geschaffene Ordnungsstruktur eindringen zu lassen.7 Gleichzeitig zu den Wirren im Inneren, wie der Japanologe Josef Kreiner formuliert8, sei Japan auch vor entscheidenden außenpolitischen Entwicklungen gestanden, wo es darum gegangen sei, sich entweder in die von China als Hegemonialmacht dominierte zwischenstaatliche Ordnung Ostasiens, das sogenannte Tributsystem, einzufügen, oder zu versuchen, China militärisch auszuschalten. Als beides nicht gelang, habe Japan den dritten Weg, den der Landesabschließung, gewählt, so Kreiner. Auch die Angst vor Kolonialisierung und christlicher Missionierung dürfte wesentlich zur Abschließung des Landes beigetragen haben, obwohl es nie einen echten Kolonialisierungsversuch Japans gegeben hat. (Heute ist nur rund ein Prozent der Bevölkerung christlich.)

1494 steckten Spanien und Portugal im Vertrag von Tordesillas ihre Interessensphären in Übersee ab. Rund ein halbes Jahrhundert später trafen die ersten portugiesischen Missionare in Japan ein. Sie folgten den portugiesischen Händlern, die von Macao aus nach Japan kamen. Bald nach den Portugiesen kamen spanische Missionare nach Japan. Zu diesen nanban, den Barbaren aus dem Süden, gesellten sich bald die kōmō, die Rothaarigen – Holländer und Engländer. Das Christentum wurde in Japan zunächst als eine Art neue Sekte betrachtet – nichts Ungewöhnliches in einem Land, in dem mit Shintōismus und Buddhismus zwei Religionen friedlich nebeneinander existieren und sich ergänzen. Manche daimyō, Fürsten, traten sogar zum Christentum über, weil sie sich lukrative Handelsbeziehungen erwarteten.

Der Jesuit Francisco de Xavier war der erste ausländische Missionar, der Mitte des 16. Jahrhunderts nach Japan kam, und er war sehr angetan: »Dieses Volk ist weitaus das höchststehende von allen neu entdeckten Ländern der Welt; und ich wüsste nicht, welches andere heidnische Volk sich mit den Japanern messen könnte. Sie sind, im Allgemeinen, durchaus gut veranlagt, frei von Bosheit und sehr freundlich im Umgang.« In Xaviers Charakterisierung der Japaner spiegelt sich seine eigene Herkunft wider, wenn er lobt: »Sie sind mäßig im Essen. Sie spielen nie. Ein großer Teil des Volkes kann lesen und schreiben. Sie haben nicht mehr als ein Weib. Es ist ein Land, in dem es wenige Diebe gibt.«9

In Japan war diese erste Phase der Kontakte mit Europa im 16. Jahrhundert eine kriegerische Zeit. Es gab keine Zentralregierung, das Land war in einzelne kleine Reiche von Regionalfürsten aufgeteilt, die sich gegenseitig bekämpften. Eine neue Gesellschaft der Krieger war entstanden, die Samurais waren an der Macht. Es wurde gekämpft und gemordet. Diese allgemeine Unsicherheit konnten die Missionare für ihren Zweck ausnützen. Aus dem Stützpunkt Goa in Indien kamen weitere Jesuiten nach Japan. Doch zunehmend zeigte sich die Intoleranz der neuen Lehre. Alte und neue Christen feierten den Sieg über die Götter Japans, indem sie die heiligen Schriften, Bilder und Figuren des »Buddhistengottes« verbrannten, die eifrige Patres und neu getaufte Christen in Strohsäcken aus den Tempeln an den Strand geschleppt und angezündet hatten.10

Allmählich stieg das Misstrauen der japanischen Machthaber gegenüber den Christen, für die nicht der Shogun, sondern Papst und Gott oberste Autoritäten waren. Man befürchtete, dass die Missionare Waffen ins Land schmuggeln würden. Im späteren 16. Jahrhundert beendeten die drei Reichseiniger, die Krieger Oda Nobunaga, Toyotomi Hideyoshi und Tokugawa Ieyasu, den seit rund einhundert Jahren andauernden Bürgerkrieg im Land. Aus der entscheidenden Schlacht bei Sekigahara 1600 ging Tokugawa Ieyasu erfolgreich hervor. Der dritte Reichseiniger wurde zum neuen Shogun. Der Tokugawa-Clan beherrschte das Land die gesamte Edo-Zeit lang. Die Tokugawa ließen schließlich alle Missionare des Landes verweisen und das Christentum verbieten. Christen wurden verfolgt und hingerichtet. Japanische Historiker schätzen, dass zwischen 1614 und 1635 mehr als 280 000 Christen infolge der Anti-Christen-Gesetze getötet wurden. Hand in Hand mit dem Ende der Mission ging das Ende des portugiesisch-japanischen Handels. Nach einer Rebellion von Landarbeitern und Bauern wurden die Portugiesen als Drahtzieher verdächtigt und des Landes verwiesen. Eine günstige Entwicklung für die Niederländer. Sie durften als einzige ausländische Nation bleiben, da sie keine Missionare geschickt hatten. Rund 250 Jahre lang waren sie die einzigen Vermittler zwischen Europa und Japan. In Form eines entfalteten Fächers errichteten die Japaner vor Nagasaki die künstliche Insel Dejima als Enklave für die Ausländer, die dort unter strenger Überwachung standen.

Die Abschottung war nicht ganz lückenlos. Der Handel mit China blieb weiterhin aufrecht. Auf Dejima durften auch europäische Wissenschaftler leben und arbeiten, die den Westen (im Tempo der damaligen Zeit) mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über Japan versorgten. Umgekehrt brachten sie über ihre japanischen Dolmetscher und andere Kontaktpersonen europäisches Wissen nach Japan: westliche Medizin, Naturgeschichte oder die niederländische Sprache, Arzneikunde, Astronomie oder Mathematik.

Die Werke von Engelbert Kaempfer, Carl Peter Thunberg oder Philip Franz von Siebold sind als frühe Quellen bis heute für die Japanforschung von großer Bedeutung. Engelbert Kaempfer, Arzt und Naturforscher im Dienste der Niederländisch-Ostindischen Kompanie, kam in den 1690er-Jahren nach Japan. Er war als Arzt für die Gesundheit der Niederländer in Dejima zuständig. Die europäischen Ärzte waren angesehen und hatten Kontakt zu japanischen Patienten und Kollegen. Dadurch waren ihnen kleine Einblicke in die Gesellschaft möglich, die den Händlern durch das rigide Überwachungssystem verwehrt blieben. Auch Kaempfer war zwar der Kontrolle unterworfen und wurde ständig begleitet und überwacht. Sein Glück war es jedoch, dass er einen Assistenten zugeteilt bekam, der ihm bei seinen Forschungen behilflich war. Der versorgte ihn heimlich mit diversen Materialien und Büchern, auf deren Basis er seine Berichte über Japan zusammenstellen konnte. Kaempfer sammelte Pflanzen und Heilmittel, beschrieb mehr als 420 Pflanzen, forschte über Akupunktur und Moxibustion, fertigte kartografische Skizzen an, ließ Bücher übersetzen, beschrieb Delikatessen der japanischen Küche und notierte die japanischen Bezeichnungen zahlreicher Pflanzen. Daraus entstanden zwei Bände der »Geschichte und Beschreibung von Japan«, die jedoch erst 1777 und 1779 erscheinen konnten, lange nach Kaempfers Tod. Seine Schriften prägen das europäische Japanbild des 18. Jahrhunderts und dienten bis ins frühe 19. Jahrhundert vielen Forschungsreisenden als Referenzwerke, vor allem über Natur- und Landeskunde.

1775 kam der schwedische Arzt und Naturforscher Carl Peter Thunberg nach Japan, auch er im Dienste der Niederländisch-Ostindischen Kompanie. Auch Thunberg musste sich strikt an die Regeln des bakufu halten und konnte nur unter Schwierigkeiten forschen. Trotzdem konnte auch er als Ergebnis seines zweijährigen Aufenthaltes ausführliche Berichte über Flora und Fauna Japans vorlegen. 1784 erschien in Leipzig seine »Flora Japonica«, sein wichtigstes Werk, in dem mehr als 750 Pflanzen beschrieben sind. Dem folgte die »Fauna Japonica« mit der Beschreibung von 330 Tieren.

1823 reiste mit dem Würzburger Arzt Philip Franz von Siebold ein weiterer junger Wissenschaftler nach Japan, dessen Forschungen berühmt wurden. Siebold kam im Auftrag des niederländischen Kolonialministeriums und sollte den darniederliegenden Handel mit Japan wieder in Gang bringen. Er war der Leibarzt des Direktors des niederländischen Residenten in Japan und hatte vom Generalgouverneur von Niederländisch-Indien in Batavia den Geheimauftrag, Japan zu erforschen. Siebold erwirkte sich bald den Ruf eines Wunderdoktors, hielt Vorträge und Vorlesungen, richtete in Nagasaki eine medizinische Fakultät ein und gab Demonstrationen seiner ärztlichen Kunst. Studenten und Patienten versorgten ihn mit Pflanzen, Tieren, Aufsätzen, Büchern, Karten, Waffen, Wetterbeobachtungen oder geografischen Beschreibungen. Das geheime Kartenmaterial über Japan, das ihm zugetragen wurde, wurde ihm und seinen Verbindungsleuten schließlich zum Verhängnis. Rund fünfzig Japaner wurden seinetwegen inhaftiert, einige starben. Siebold wurde auf Lebzeiten verbannt. Aus Batavia schrieb er in einem Brief an seine Mutter, er sei glücklich aus Japan entkommen, und fügte hinzu: »Nichts ist für die Wissenschaft verloren gegangen.« 1830 war Siebold wieder in Europa. Da er für sein großes Werk »Nippon. Archiv zur Beschreibung Japans« keinen Verleger fand, ließ er es auf eigene Kosten drucken.

1868 begann mit der Meiji-Restauration eine neue Epoche in Japan. Die Macht des Tenno wurde gestärkt, das Shogunat, das Feudalsystem und damit die feudalen Stände, wurde abgeschafft. Paradoxerweise habe das, was heute als modernes Jahrhundert Japans bezeichnet werde, mit einer Rebellion von Führern begonnen, die die gute alte Zeit wiederherstellen wollten, indem sie dem Tenno wieder jene Position zu geben trachteten, wie er sie höchstens in der Nara-Zeit (7., 8. Jahrhundert) innegehabt hatte, analysiert der Japanologe Sepp Linhart11. Der Tenno mit seiner absolutistischen Macht thronte an der Spitze der neuen Hierarchie. Die Gruppe kaisertreuer Samurais, die den Kaiser zurück an die Macht brachten, wollte Japan weiterhin abgeschottet halten. Ihr Slogan »Vertreibt die Barbaren!« war aber nicht lange aufrechtzuerhalten. Im Gegenteil: Die »Barbaren« wurden bald als Lehrmeister ins Land geholt, um Japan zu modernisieren. Japan erfand sich neu.

Das einstige Fischerdorf Yokohama, wo vor 160 Jahren die »Schwarzen Schiffe« einliefen, ist heute die zweitgrößte Stadt Japans, ein zentraler Umschlagplatz für den internationalen Handel und eine der wichtigsten Industriestädte.

Aufbruch Japans in die Moderne mit großer Besetzung. Der Besuch der Iwakura-Gesandtschaft im Westen

Am 23. Dezember 1871 bricht eine hochrangige japanische Delegation von Yokohama in den Westen auf. Nach der Öffnung aus der langen Isolation will Japan nun endlich »die westliche Zivilisation« kennenlernen, sich Know-how für die Modernisierung des Landes sichern und vor allem auch eine Revision der ungleichen Handelsverträge erreichen, in die es gezwungen worden ist.

Angeführt vom außerordentlichen und bevollmächtigten Botschafter, Vizeministerpräsident Iwakura Tomomi, nach dem die Mission benannt ist, reist die Hälfte der Regierung zu zwölf westlichen Vertragsstaaten. Dass fast die gesamte Führungsspitze der Meiji-Regierung mitreist, um sich ein Bild davon zu machen, wie Modernisierung wirkt, zeige die große Bedeutung, die Japan dem Aufholprozess gegenüber dem Westen beigemessen habe, analysiert der Japanologe und Historiker Peter Pantzer.

Die Delegation besteht aus mehr als vierzig Personen – dem Staatsrat für Justiz, dem Finanzminister, dem Bauten- und dem Vizeaußenminister, hochrangigen Regierungsbeamten, Gelehrten und Student*innen. Mit dabei auch der Chronist Kume Kunitake (1839–1932), dessen Logbuch wir das Wissen über die Erkundungsreise verdanken. Bildungswesen, Rechtswissenschaften, Medizin, Heereswesen, Industrie und Technik – auf vielen Gebieten erhofft sich die japanische Delegation neue Erkenntnisse, die die Modernisierung und Entwicklung ihres Landes voranbringen sollen. Als die Delegation ihre Reise antritt, gab es in Japan noch keine allgemein zugänglichen Universitäten oder standardisierte Ausbildungsstätten. Doch das Bildungsniveau war relativ hoch, weshalb die Modernisierung später dann auch so rasch greifen konnte: Es gab Tempelschulen auf dem Land; die Kinder der daimyō, der Fürsten, erhielten Privatunterricht; die Kinder der Samurais wurden in Gruppen der feudalen Clans unterrichtet. Schwerpunkt des Unterrichts lag auf dem Lesen der chinesischen Klassiker und konfuzianischer Schriften, auf Kalligrafie und Waffenunterricht. In den Städten existierten eigene Leihbibliotheken für Dienstboten, was Rückschlüsse auf den Alphabetisierungsgrad zulässt. Die allgemeine Schulpflicht für alle Schichten wurde dann nach 1868 eingeführt.

Vor der großen Erkundungsreise nach Europa und in die USA gab es noch keine Eisenbahn in Japan. Umso begeisterter ist die Iwakura-Gesandtschaft von der Bahnverbindung zwischen San Francisco und New York, aber auch von der Bergbahn über den Semmering in Österreich. Die Reiseroute führt über die USA, Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Russland, Deutschland, Dänemark, Schweden, Bayern, Italien und die Schweiz. Im Mai 1873 trifft die Gesandtschaft in Österreich-Ungarn ein.

Gemeinsam mit einem Team von Übersetzer*innen hat Peter Pantzer die Passagen von Kume Kunitakes Reisebericht über Deutschland, Österreich und die Schweiz ins Deutsche übersetzt und sich damit einen langjährigen Traum erfüllt: 1968 entdeckte er als junger Student den fünfbändigen Reisebericht in einem Antiquariat in Tōkyō und war davon fasziniert. Doch erst 25 Jahre später erschien seine Übersetzung ins Deutsche, Die Iwakura-Mission, im iudicium Verlag in München.

Kume Kunitakes Reisebericht erschien 1878 unter dem Titel12 »Wahrer Bericht über die Rundreise des bevollmächtigten Sonderbotschafters durch Amerika und Europa« und ist eine wichtige Quelle für die Forschung über die Beziehungen Japans zu den besuchten Staaten. Die einzelnen Länderkapitel beginnen mit allgemeinen, enzyklopädischen Einführungen zu Geografie, Geschichte, Politik, Gesellschaft und Kultur und zeigen, wie akribisch sich die japanische Delegation auf die Reise in den Westen vorbereitet hat. Sei es doch die erklärte Aufgabe der Gesandtschaft gewesen, »auch die noch zögerlichen Zeitgenossen an den Schaltstellen von Behörden und Politik von der unbedingten Notwendigkeit zu überzeugen, dass die Öffnung zum Westen der einzig gangbare Weg für Japans Zukunft sei«, so Peter Pantzer.

Österreich-Ungarn ist die vorletzte Station dieser langen Reise. Da hat die Delegation in den USA, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Deutschland und Skandinavien schon so gut wie alles gesehen, was sie sehen wollte. Am meisten beeindruckt waren die Japaner von der Industrialisierung in den USA und Großbritannien. In Österreich hinterlassen neben der Semmeringbahn das Heeresgeschichtliche Museum und die schicken Uniformen den größten Eindruck: »Über die glanzvolle Schönheit der Uniformen (so schön wie Blumen auf einer Frühlingswiese und die prächtigsten in ganz Europa) und die vorzüglich strukturierte Erzeugung von Heeresbekleidung für die k. u. k. Armee vergißt der japanische Chronist nicht, die dezidierte Feststellung zu treffen, daß die militärischen Anstrengungen zu wünschen übrig ließen, und zwar in einem für ein zivilisiertes Land schandbaren Ausmaß.« (Kap. 80, S. 393).13 In Wien wohnen die Gesandten im Hotel Austria, das ihnen von der österreichischen Regierung zur Verfügung gestellt wird. Anmerkung Kume: Für Küche und Keller hatte die Delegation selbst zu sorgen. Es gibt ein durchaus ambitioniertes Programm zu Ehren der Gäste: Die Gesandtschaft nimmt an der Truppenrevue auf dem Exerzierplatz auf der Schmelz teil, die der Kaiser anlässlich der Wiener Weltausstellung abhalten lässt, besucht die Weltausstellung, Kasernen, Produktionsstätten und die Schatzkammer in der Hofburg. Dokumente geben Auskunft über eine Einladung zur Tafel in Schönbrunn bei Seiner Majestät dem Kaiser, inklusive Musikprogramm, oder den Empfang durch Außenminister Julius Graf Andrássy. Und trotzdem hat Wien bei der Delegation offenbar keinen großen Eindruck hinterlassen, wie Pantzer schreibt: »Das Urteil, das Kume über Österreich fällt, ist ein sehr zwiespältiges. Vielleicht um Ausgewogenheit bemüht, wird beim Vergleich mit dem Deutschen Reich der Vorrang Österreichs in kulturellen Dingen unterstrichen. Es wird von einem wärmeren Wesen gesprochen, von einem Schönheitssinn, der in vielerlei Bereichen so in Berlin nicht anzutreffen gewesen wäre, von den Leistungen der Wissenschaft, namentlich im Ingenieurswesen und der Medizin; dann aber werden unmissverständliche Zensuren ausgeteilt, die über Österreich ein hartes Urteil fällen.«14

Was hat der japanischen Delegation in Österreich-Ungarn missfallen? Der Befund ist tatsächlich wenig schmeichelhaft: »Zwar verfügt das Volk nur über beschränkten Elan und Erfindungsreichtum, doch wendet es sich gerne Neuerungen zu«, bemerkt Chronist Kume Kunitake über die Österreicher. An mehreren Stellen in seinem Bericht gibt es Notizen zur Multikulturalität Österreich-Ungarns, die Kume als einen Nachteil für Österreich sieht: Daraus folgere die immense Schwierigkeit, in den einzelnen Ländern politisch einheitliche Ziele umzusetzen. Dem Land fehle ein einheitliches Gepräge, und die Tatsache, dass im Vielvölkerstaat in der Schule mehrere Sprachen verwendet werden müssten, sei für den Fortschritt hinderlich.

Mit dem Bericht der Iwakura-Gesandtschaft liege eine sehr nüchterne Bestandsaufnahme dessen vor, was für den japanischen Staat und seine Politik zu Beginn der Meiji-Zeit wichtig war, meint die Japanologin Ina Hein vom Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien. In ihrem Aufsatz »Von Lerneifer, Hassliebe und Desinteresse«15 kommt sie zum Fazit, »… dass die Aufzeichnungen Kume Kunitakes über den Aufenthalt der Iwakura-Mission in Wien ganz klar die politischen Interessen der Meiji-Regierung widerspiegeln – sie sagen damit nicht so viel über das Wien der damaligen Zeit aus, sondern eher etwas über das sich gerade modernisierende Japan«. Stets im Hintergrund präsent sei die Frage nach der Fortschrittlichkeit bzw. dem Entwicklungsstand des bereisten Landes, und somit nach der Verwertbarkeit für Japan, so Ina Hein.

Zeitlich fällt der Besuch der japanischen Delegation mit der Wiener Weltausstellung zusammen, die von Mai bis November 1873 im Wiener Prater stattfindet. Hier präsentiert Japan mit mehr als 6600 Exponaten seine kulturellen und technischen Errungenschaften. Um auszuprobieren, wie die Schau wirkt, gibt es 1872 zwei Vorausstellungen im eigenen Land, die auf enormes Publikumsinteresse stoßen. Die Präsentation Japans auf der Wiener Weltausstellung ist eine Präsentation der Superlative, an der rund 30 400 japanische Aussteller teilnehmen. Unter den Exponaten sind Seidenmuster, Kunstwerke aus Lack, Porzellan, Bronze, Email, Schildpatt, Fischbein, Kupfer, Gegenstände aus Bambus, Papierproben und eine Auswahl an Fossilien aus dem Tier- und Pflanzenreich. Aus Japan mitgebrachte Arbeiter haben auf dem Gelände der Wiener Weltausstellung kleine Pavillons, Hügel, künstliche Wasserläufe, Brücken und Tempel errichtet sowie das prachtvolle Modell einer daimyō-Residenz, das heute – aufwendig und sorgfältig renoviert – als Herzstück des Japanraumes im Weltmuseum in Wien zu sehen ist.

Kume Kunitake widmet der Wiener Weltausstellung in seinem Reisebericht zwei umfangreiche Kapitel. Seine Schilderungen betreffen hauptsächlich die Exponate der Ausstellerländer (USA, Brasilien, diverse europäische Länder, Ägypten, Persien, China, die Türkei und Japan). Die Präsentation Österreich-Ungarns wird nur kurz gewürdigt.

Umgekehrt stößt die Präsentation Japans hierzulande auf große Begeisterung. Die Malerin und Schriftstellerin Eufemia von Kudriaffsky schildert: »So machte sich eine entschiedene Vorliebe,e i nInteresse bei Alt und Jung, bei Vornehm und Gemein, bei Fremden und Einheimischen in auffallender Weise breit. Und diese Vorliebe galt einem kleinen, bisher wenig bekannten Inselvolke im Osten Chinas, einem Volke, das sich in unserer Weltausstellung die allgemeinen Sympathien erobert hat. Wodurch? Sind es die kunstfertigen Producte überhaupt, sind es die staunenswerthen Fortschritts-Bestrebungen der Regierung Japans, die überraschende Intelligenz der einzelnen Individuen, oder jener geheimnissvolle Schleier, der trotz der auffallenden Annäherung an Europa und seine Sitten noch immer über Land und Volk gebreitet liegt, oder ist es die Vereinigung aller dieser Momente, wodurch das Interesse und die Theilnahme von so verschiedenen Persönlichkeiten concentrirt werden, mit einem Wort, der Zauber ist da, er lässt sich nicht wegleugnen, undJ a p a nist zur Parole und Losung bei der grossen und allgemeinen Weltausstellungs-Revue geworden.«16

Die Weltausstellung in Paris, fünf Jahre später, verstärkt den Zauber. Japan bezaubert und fasziniert, Japan löst eine (Japo)manie aus. Japan beeinflusst Künstler wie Klimt, Degas, Kandinsky, Gauguin, Kolo Moser, Marc Chagall und viele andere. Als hätten sie auf das Neue, das Exotische, nur gewartet, übernehmen bildende Künstler*innen japanische Motive und Stile, Techniken und Perspektiven. Japanisch Inspiriertes fließt in Alltagsdesign oder Mode ein, Japanisches wird für europäische Konsument*innen der letzte Schrei, eigens für den westlichen Geschmack hergestelltes Porzellan überschwemmt die Märkte. Und obwohl die Kenntnisse über Japan allmählich zunehmen, blühen weiterhin Fantasievorstellungen und exotische Klischees. Der Westen assoziiert Japan mit Geisha, Kirschblüte, Sukiyaki, Fujiyama, Tōkyō, Yokohama, Nagasaki etc. Die großen Erfolge von Operetten und Opern wie Der Mikado, Die Geisha oder Madama Butterfly (die meistgespielte Oper der Welt) bewirken, dass noch mehr Japan-Operetten und Japan-Lieder komponiert werden, in denen die Klischees weiterstrapaziert werden und die das Japanbild im Westen – zum Teil bis heute – hartnäckig prägen.

Ein Reisebericht aus dem Jahr 192217