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Katharina Pressl

Andere Sorgen

Roman

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Die Arbeit an diesem Buch wurde vom Land Kärnten unterstützt.

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© 2019 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin/buero 8

Lektorat: Jessica Beer

ISBN Printausgabe 978 3 7017 1706 4

ISBN e-Book 978 3 7017 4602 6

Für L.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

1

Die Stadt steht.

Durch die rechte Fensterscheibe beobachte ich einen, der das parkende Auto vor ihm anhupt. Er macht sich am Lenkrad groß, um weit nach links vorne zu sehen. Er setzt den Blinker und versucht, sich vom Parkstreifen wieder in den Fließverkehr einzuordnen. Um abbiegen zu können, klemme ich das Handy zwischen Wange und Schulter und blicke in den Rückspiegel. Ich sehe erwartungsgemäß aus; passend. Die Nachmittagssonne trifft trotz des Herbsttags gleißend hell auf die schwarzen Gläser der Sonnenbrille, die ich irgendwo im Handschuhfach gefunden habe. Ich sehe aus, als müsste ich Kategorien erfüllen. Ich sehe aus, als wäre ich auf einem bestimmten Weg.

Fein säuberlich nehme ich mich Telefongespräch für Telefongespräch für die nächste Woche aus dem Leben heraus, sage Termine ab und deute an, dass der Grund meines Ausbleibens privat ist. Ich werde von moralischen Standards geschützt, es werden kaum Fragen gestellt. Ich befreie das Handy aus seiner Klammer zwischen Kinn und Schulter und schiebe es zwischen die CDs und Tankrechnungen ins Handschuhfach.

Neben dem Schalthebel wackelt ein Kaffeebecher in seiner Vorrichtung hin und her. Eigentlich ist er ungeeignet, um auf diese Weise transportiert zu werden. Der Deckel hängt lose am Becherrand, sodass der Kaffee in jeder Kurve womöglich überschwappt. Beim Abbiegen, und wenn ich in ungerade Gänge schalte, schiele ich hinüber.

Meine Finger klopfen auf das Lenkrad. Ich versuche mich zu überzeugen, dass die feuchten Fingerkuppen nicht aus Nervosität auf das mit Kunstleder überzogene Lenkrad tippen. Ich versuche mich zu vergewissern, dass das Klopfen nicht Ausdruck einer aufgewühlten Gefühlslage ist, dass ich nicht noch einer Kategorie entspreche: gelassen wirken, es aber nicht sein.

Ich singe This isn’t a brave face, this isn’t a brave face, this is a mask mit und passe das Trommeln meiner Finger dem Rhythmus der Musik an.

Ich fahre aufs Land, dort wartet ein Haus. Im Haus warten Gegenstände, die sich formiert haben und bereitstehen, um Vergangenheit zu werden. Die Schränke stehen Habtacht. Die Schubladen salutieren. Stramm warten die Dinge des Lebens, die man angehäuft hat, die man gebraucht hat, und die, die man zu brauchen geglaubt hat. Ich habe die Vermutung, dass sie mich angreifen werden. Sie werden mich ergreifen wollen, mit den an ihren Oberflächen festklebenden Erinnerungen, mit ihrer Aufforderung, man möge sich mit ihnen auseinandersetzen, sich auf sie einlassen. Ich atme für mehr als eine Person aus und wische mir die Haare aus dem Gesicht. Sollen sie doch bitten und betteln, so viel sie wollen.

Die Straßen haben mich vorangebracht. Sie lassen mich glauben, dass alles ein Wettbewerb sei, dass sich hier im Kleinen das Große zeige. Ich fahre schneller, lasse meine Konkurrenz links und rechts zurück. Wir sind nicht auf der gleichen Spur, aber rücksichtsvoll. Mögen müssen wir uns nicht, aber blinken. Man ist hier zusammen, ist abhängig, kann nicht für sich alleine entscheiden, könnte nicht umdrehen, könnte nicht einfach stehen bleiben. Eine Vollbremsung entspräche einer Massenkarambolage, und wer käme damit zurecht, wer könnte das mit sich vereinbaren.

Ich fahre durch den Ort zum Haus. Im Ort gibt es eine Trafik, eine Drogerie, zwei Supermärkte, ein Fisch- und ein Fleischgeschäft. Es gibt einen Baumarkt und einen Apfelverkaufsstand in der Vorhalle des Baumarkts. Bei der Autobahnabfahrt gibt es einen McDonald’s und eine Disco mit großen, leuchtenden Lettern auf dem Flachdach: Rossini. In ausreichender Distanz liegt auf einer Anhöhe das Altersheim. Noch weiter hinter der Autobahnauffahrt befindet sich die Hauswilderei. Im Zentrum gibt es zwei Bars, einen Asiaten, einen Italiener und einen Gasthof, dessen Name mit »Zum« beginnt. Es gibt ein Krankenhaus, ein Schulzentrum und »Ilse’s Cafe«. Ein Teppichgeschäft, zwei Juweliere, die Post und die alte Post. Dazwischen liegen Pflastersteine und Zigarettenstummel. Es gibt einen Spielplatz neben der Kirche. Auf der Mauer steht seit Jahren Fuck the church. Zuerst prangte es dort in Rot. Nun hat es fast die Farbe der Mauer angenommen. Im Ort geht niemand zu Fuß, niemand fährt Rad, alle fahren Auto. Der Ort ist eine kleine Stadt, die nie die Hülle eines Dorfes verlassen hat. Sie hat sich nie zu mehr entpuppt als ein Zusammentreffen einiger Häuser, Geschäfte, Hügel, Autos, Wiesen, Straßen und Menschen. Der Ort ist groß genug, um alles bereitzustellen, was man dort für notwendig erachtet. Der Ort ist klein genug, um sich bei jeder Begegnung mit einem anderen Menschen Grüß Gott zuzurufen, auf gut Glück, weil man sich höchstwahrscheinlich kennt.

Ich steige aus und ertaste mir den richtigen Schlüssel, während ich die Stiegen hinaufstapfe. Obwohl man jedes Auto, das auf dieses Haus zufährt, mindestens zehn Sekunden vor der Ankunft hört, trotz der lautstark zugeschlagenen Autotüren und obwohl ich weiß, wie viel Lärm der Schlüssel im Schlüsselloch und das Herunterdrücken der Türklinke machen, und auch weiß, dass sich niemand im Haus befindet, rufe ich Hallo und räuspere mich, weil meine Stimme nach der langen Autofahrt krächzt.

Das Haus ist groß. Es besteht aus drei Stockwerken. Eine Seite ist dunkel, sie ist von hohen Bäumen beschattet. An schönen Tagen flutet die Sonne die andere Hälfte. Auf den großen Fenstern und Glastüren sind Spuren von Regentropfen, von Vogeldreck und Handabdrücken. Vor den kleinen Fenstern auf der dunklen Hälfte stehen hohe Tannen und Birken. Die Bäume sind so nah, dass, wenn es stürmt, die Äste gegen das Haus peitschen. Das Haus ächzt nicht, es nimmt die Schläge wortlos hin.

Die Haustür führt direkt ins Wohnzimmer. Vor der gläsernen Terrassentür und unter dem Fenster rekeln sich Topfpflanzen in Richtung Sonnenlicht. Zwischen ihnen an der Wand steht eine Couch mit unterschiedlichen Polstern. Sie ruft mich, fordert meine Aufmerksamkeit, will mich mit ihrer Vergangenheit in eine Falle locken. Sie bittet, bettelt und jammert, genau so, wie ich es von ihr erwartet habe. Ich werfe ihr einen unbekümmerten Blick zu, gönne ihr kein Zeichen von Schwäche. Verführerisch plustert sie sich auf, will mich gerührt sehen, schwelgend, den alten Zeiten nachsinnend oder wenigstens wütend. Durch eine kleine Tür entfliehe ich in die Küche voller Laden und Türchen, hinter denen sich Keramikgeschirr, Pfannen, Töpfe, Gewürze und zwanzig, fünfzig oder gar hundert Einmachgläser mit Gurken, Paprika und Tomaten verstecken. Ein großer Holztisch steht in der Mitte. Er ist abgenutzt, auf ihm ist ein kleiner schwarzer Brandfleck zu sehen, seit damals, als ich beim Kartenspielen zu Weihnachten eine Kerze umgestoßen habe. Die Aufregung über das Missgeschick hat beinahe die Tatsache überschattet, dass ich mit diesem Zug gewonnen hatte. Würde ich mit der Hand an der Unterseite der Tischplatte entlangfahren, könnte ich den eingravierten Namen meiner Schwester spüren. Ich sehe unzählige Bilder vor mir und atme viele Jahre meines Lebens durch die Nase ein. Der Tisch wird der Couch nichts verraten.

Eine Stiege führt in den ersten Stock. Bad, Toilette, Mutters altes Zimmer, mein altes Zimmer und das alte Zimmer von Klara drängen sich auf der ersten Etage zusammen. Mein Zimmer ist noch immer dem von damals ähnlich. Die Zimmertür klemmt ein wenig, ein Vorhang fehlt, aber das Bett ist bezogen. Es hängen weniger Bilder an den Wänden und der Großteil meiner Sachen steht im Keller, um das Zimmer für die gelegentlichen Besuche wohnlicher zu machen. Nur Fotos mit Familienmitgliedern und Reiseführer durften bleiben. Die häufigsten Gäste waren meine Schwester Klara oder ihre Kinder. Klara blieb nur selten, meistens, wenn es nach einem ihrer nächtelangen Gespräche mit Mutter zu spät wurde.

Klaras altes Zimmer ist zu einer Mischung aus Nähzimmer, Spielzimmer und unbenutztem Fitnessraum umgestaltet worden. Kinderzeichnungen hängen an der Wand, aus den Plastikkisten an den Wänden leuchten Legosteine, und in der Ecke steht ein Heimtrainer.

Ich drehe den Veränderungen, die passiert sind, seit ich nicht mehr hier war, den Rücken zu.

Über ein paar breite Stufen gelangt man in den zweiten Stock, der aus einem einzigen großen Raum besteht. Ein massiver dunkler Schreibtisch, das schwarze Loch des Zimmers, zieht alle ersten Blicke auf sich. An den Wänden um ihn herum stehen Schränke und Regale Schulter an Schulter, gefüllt mit Büchern, Ordnern, CDs, Platten, Dokumenten und allem, was dem Leben sonst noch zum Aufbewahren beigelegt wird.

Der Keller ist das Fundament des Hauses und die erste Baustelle meiner Aufräumarbeit. Dort lagern alte Geräte; ein Herd, ein Geschirrspüler und eine, mir und meiner Schwester ins Hirn gebrannte, mintgrüne Couch. Im Keller lagert ein Reserveleben, eine zweite Version von dem, was ist, eine nicht angekreuzte Option, die ich entsorgen muss. Zuerst das Reserveleben, danach das echte.

Ich bin am leichtesten in meinem Leben zu entbehren, daher ist das Haus meine Aufgabe.

Die Lebensumstände meiner Schwester sehen dafür keinen Platz vor. Meine Schwester ist ein akzeptiertes Ideal, die Realität stimmt bei ihr mit den geläufigen Vorstellungen, wie sie sein sollte, überein. Meine Schwester erreicht, was man erreichen soll, sie schafft, was sie muss. Ihr eine zusätzliche Aufgabe aufzuhalsen, wäre unfair. Ausgerechnet die Tatsache, dass sie die Dinge auf die Reihe bekommt, spielt ihr nun in die Hände, damit ihr nicht auch noch das Hausausräumen gelingen muss.

Der einzige Tag, den sich meine Schwester in den nächsten Wochen freinehmen kann, um mit mir zum Bauhof zu fahren, ist morgen. Freitags arbeitet sie nicht, und die Kinder sind mit ihrem Freund unterwegs. Ich habe mehrmals wiederholt, dass es nicht nötig sei, mir zu helfen. Einerseits, um sie zu entlasten, und andererseits, um mir die Möglichkeit zu geben, den Beginn der Aufräumarbeiten hinauszuschieben. Meine Schwester erwiderte, dass ein Anhänger und ein Auto mit entsprechender Kupplung schon ausgeliehen seien, dass das ihr Beitrag sei, und es zu Beginn ohnehin nur um den Keller ginge. Versionen von Sprüchen wie »Erledigt ist erledigt« oder Begriffe wie »Initiativanstoß« fielen häufig, nebenbei erfuhr ich von ihr, dass mein Auto keine Anhängerkupplung besitzt. Ich habe aufgegeben und mir immer wieder in Erinnerung gerufen, wie kurz eine Woche ist. Es funktionierte, nur manchmal schwirrte mir

on this life that we call home the years go fast and

the days go so slow,

the days go so slow

im Gehörgang herum.

Ich ignoriere das Haus den restlichen Abend lang, tue so, als wäre ich an einem Ort, für den es nichts Ungewöhnliches ist, dass ich dort bin. Ich gebe mich fasziniert dem Fernsehprogramm hin. Nur manchmal, wenn die Wände, die Pflanzen und die Polster der nicht mehr mintgrünen Nachfolgercouch oder meine hochgezogenen Knie hell beleuchtet werden, weil die Bilder im Fernseher ihre Farbe ändern, begreife ich, wo ich bin und was ich tue. Ich wechsle das Programm, um die Schatten auf meinem Gesicht auszutauschen, um die Gedanken aus dem Kopf zu treiben. Ich rieche unauffällig am Polsterbezug. Ich vertreibe mir die Zeit und die Realität, bis ich wirklich nichts Annehmbares mehr finde und das Gefühl habe, der Couch genug Stärke bewiesen zu haben. In meinem alten Zimmer lege ich mich ins Bett und starre die Holzdecke an. Sie starrt zurück. Sie ist so gut in diesem Spiel, dass sie mich in den Schlaf zwingt, bevor sie auch nur einmal blinzeln muss.

Am nächsten Vormittag ist der Herd aus dem Keller in einer Situation, die er kennt. Vor Jahren wurde er aus der Wohnung von Klaras Vater gebracht, als zu schade zum Wegwerfen empfunden, und von meiner Mutter aufgenommen. Im Keller könne er auf seine Bestimmung warten. Man solle auch immer an das damals für ihn ausgegebene Geld denken. Dieses Mal eilt dem Herd niemand zu Hilfe.

Ich weise mich beim Müllhaldenpersonal als Bürgerin des Ortes mit einer Gemeindekarte aus, die anscheinend niemals ihre Gültigkeit verliert. Sie bewahrt mich davor, für die Entsorgung von Sperrmüll bezahlen zu müssen. Meine Schwester steigt aus, öffnet die Verriegelung des Anhängers und wir beginnen, die Gegenstände, die nur Gegenstände sind und somit nicht mehr als grobe Konturen eines Lebens, über das beschriftete Geländer zu werfen. Altmetall zu Altmetall, Holz zu Holz, und das, was keine der Kategorien erfüllt, zum Sperrmüll. Wir tragen den Herd umständlich vom Auto zur Absperrung. Dort stemmen wir ihn hoch, bis er am Geländer lehnt und seine Zukunft nur noch von unseren behandschuhten Fingerspitzen abhängt. Wir kippen ihn einen Millimeter weiter und sein Schicksal ist vollzogen. Wir schauen ihm nach und lächeln bei seinem Aufprall. Wir werfen ihm den Geschirrspüler, die Kellerregale und die mintgrüne Couch hinterher. Zwei oder drei Meter tief fallen die Gegenstände, bis sie in einem Container voll mit ihresgleichen landen, sich gegenseitig kaputt machen oder an sich selbst zerbrechen. Das Müllhaldenpersonal sagt, dass aus allem noch einmal etwas wird. Entweder in Form von Edelstahl oder in Ungarn.

Ich kehre im Keller, bis der Tag, ohne dass ich es bemerke, dunkel wird. Als ich den Besen an die Wand lehne und auf die Uhr sehe, brennen meine Hände von der rauen Oberfläche des Holzstiels. Ich hätte einen neuen kaufen sollen, denke ich, während ich meine Handflächen inspiziere. Mit einem Geräusch, das durch den leer geräumten Kellerraum hallt, fällt der Besen auf den Fliesenboden. Eine kurze Angst blitzt durch meinen Körper. Der Keller liegt kühl und grauweiß vor mir. Die Neonröhren leuchten, Staub fliegt durch die Luft. Die kleinen Luken, durch die tagsüber zumindest schwaches Sonnenlicht gedrungen ist, spenden nur noch Dunkelheit. Das Haus wächst plötzlich über meinem Kopf weiter und weiter. Es wird immer höher, breiter und der Keller bebt, droht, unter der Last einzubrechen.

Ich sehe zur Decke. Sie hält noch.

Ich hebe den Besen auf. Nicht der Keller, sondern meine Finger zittern. Als ich das Licht ausschalte, die Tür zum Keller verschließe und nach oben gehe, beruhigt sich mein schnell klopfendes Herz. Das Geräusch des Besens muss mich auf das unheimliche Szenario, in dem ich mich befand, aufmerksam gemacht haben. Die Dunkelheit draußen, der Keller, das Land, das Licht. Ich versuche an etwas anderes zu denken. An die Stadt, an meine Wohnung, an meine Mitbewohnerin Jola, an die Arbeit, an meine Zukunft, daran, meine Mutter zu treffen, an die schönen Kleinigkeiten des Ortes. Die blitzende Angst verschwindet. Eine andere, die kein Zittern erzeugt und keinen Schreckmoment braucht, bleibt. In Ruhe legt sie sich gemächlich und für lange Zeit auf meine Schultern.

Ich sitze am Küchentisch und fahre mit dem Zeigefinger über den Brandfleck. Das Haus ist für mich still. Alle Geräusche, die das Holz macht oder die Bäume draußen, nehme ich aus alter Gewohnheit nicht wahr.

Das Haus ist sehr groß für einen Menschen wie meine Mutter. Oder meine Vorstellungskraft zu klein, um mir ihr Leben, ihr Glück und ihre Welt hier ausmalen zu können. In einem Buch bin ich einmal völlig aus dem Nichts genau auf unsere Situation gestoßen. Es hieß, dass alle glaubten, die Mutter müsste in ihren Lebensumständen unglücklich sein, einsam, und dass niemand verstehe, warum sie es einfach nicht sei. Sie sei glücklich, als hätte sie keiner über ihr angebliches Unglück informiert. So war es bei uns auch. Wäre ich nicht an einem öffentlichen Ort auf diese Zeilen gestoßen, ich hätte weinen müssen. Meine Mutter schien mir, als wäre der gesellschaftliche Bescheid darüber, dass sie eigentlich unglücklich sein müsste, in der Post verloren gegangen, oder als hätte sie den Brief aus Versehen weggeschmissen, wer weiß, und wäre stattdessen einfach glücklich geblieben, und niemand wäre auf die Idee gekommen, sie davon abzubringen.

Ich gehe schlafen, bevor ich mich zu sehr in Gedanken verliere, bevor noch ein Besen oder ein Regenschirm oder so etwas umfällt, oder ich zu lange an das Glück denke.

Als ich mir am nächsten Tag von der Apotheke eine Salbe gegen die Schwielen auf meinen Händen hole, treffe ich am Parkplatz Marvin. Marvin hat noch dieselben langen Haare, aber kein Bäuchlein mehr. Vor langer Zeit wurde er Gerald genannt, bis zu einem verrauchten Abend, an dem er der ganzen Runde verkündete, dass sein Spitzname ab sofort Marvin sei. Die meisten haben gelacht. Ich habe gesagt, dass Spitznamen nach einem sehr alten Gesetz nicht von einem selbst ausgesucht werden dürften.

»Und kürzer müssen sie sein. Und auf keinen Fall dürfen sie Marvin lauten«, hat Marvins Cousin gesagt. Marvin ist aufgestanden und hat uns mit einem bestimmten Blick angesehen: »Marvin und Gerald haben gleich viele Buchstaben.« Er ging in Richtung Toiletten davon, und als er nach einer Weile zurückkam, tat er, als wäre nichts gewesen, und wir nannten ihn Marvin.

Marvin umarmt mich, fragt, wo ich herkomme und wo ich hingehe. Ich zeige zuerst auf die Apotheke und dann auf das Auto hinter mir. Er war gerade im Copyshop Plakate drucken.

»Zeig mal her.«

»Veranstaltungsplakate.« Er rollt vor mir ein buntes Etwas in die Luft, das Musik in der Hauswilderei ankündigt.

Im Ort erklärt niemand etwas. Es fragt auch niemand etwas nach, weil angenommen wird, dass ohnehin alle Bescheid wissen. Ich nehme die Hauswilderei und die Bands hin, als wären sie selbstverständlich.

»Freitagabend. Kommst du hin?«, fragt Marvin. Die Couch, vielleicht auch der Tisch haben sich Verbündete gesucht.

»Vielleicht.«

»Okay«, sagt Marvin.

»Eher nicht als schon.«

»Verstanden.«

Wir verabschieden uns, ich steige ins Auto, und als ich zurücksetze, sehe ich im Rückspiegel Marvin, der so tut, als hätte ich ihn angefahren.

Ich verschmiere die Salbe auf meinen Händen und hinterlasse an Wasserhähnen, Weingläsern und auf den Buchstaben der Laptoptastatur Fettspuren. Ich suche nach Tipps zum Ausräumen eines Hauses im Internet. Stufensystem, Upcycling, Rent a Man with a Van, Flohmarkt in der Hauseinfahrt. Unzufrieden wandere ich durch das Haus. Im obersten Stock bleibe ich an willkürlichen Stellen vor den mit Büchern und Ordnern gefüllten Regalen stehen. Ich ziehe Kochbücher, Romane, Schulbücher, Pflanzenratgeber und Rätselblöcke heraus, blättere darin und stelle sie zurück. Irgendwann stolpern meine die Buchrücken entlangspazierenden Finger über »Kishon für Kinder«. Ich schmunzle den alten Geschichten über die beste Ehefrau von allen und über einen Hund, der immer auf rote Teppiche pinkelt, entgegen.

Meine Schwester war bereits bei unserer Mutter im Altersheim zu Besuch gewesen. Sie war alleine dort, also hat sie beschlossen, dass auch ich alleine hin-muss.

Einweihungsritual sozusagen, schreibt sie mir in einer SMS.

Ich schreibe, dass sich alles, was Einweihungsrituale verlange, nach einer schlechten Idee anhöre, und Familie wolle ich davon nicht ausnehmen.

Klara schickt einen Smiley, der gleichgültig die Hände nach oben hält, und schreibt: Ich habs hinter mir, ich nehms dir sicher nicht ab. Sonst wärs ja kein Einweihungsritual.

Und das wäre ewig schade, tippe ich, schließe die Nachrichtenapp und suche unter meinen Kontakten die Nummer des Altersheims heraus, um einen Termin auszumachen. Am Telefon erklären sie mir, dass ich nur außerhalb der Öffnungszeiten eine telefonische Anmeldung bräuchte.

»Ich kann immer, außer Freitagabend«, teile ich der uninteressierten Stimme am anderen Ende mit.

Zum Altersheim Hohe Wonne führen sieben langgezogene Stufen mit wenig Höhendifferenz. Ich schlurfe sie in dem Rhythmus hinauf, den sie unweigerlich vorgeben. Daneben gibt es einen geebneten Weg. Ein weiß gekleideter Pfleger, auf dessen Namensschild Arno steht, zeigt mir das Zimmer meiner Mutter. Den Weg dorthin füllt er mit unnötigen Worten. »Bald haben wir es geschafft, hier sind wir auch schon, et voilà, Nummer 37.«

Im Zimmer wird meine Mutter zu Mama. Ich umarme sie und küsse die Fältchen neben ihrem rechten Auge, die kein bisschen mehr geworden sind, obwohl ich es mir so vorgestellt hatte. Das Bett ist nicht der einzige Einrichtungsgegenstand im Raum, und meine Mutter ist nicht bettlägerig. Es gibt eine kleine Küche und eine Nische zum Hinsetzen. Auf dem Tisch liegt ein weißes Spitzendeckchen, darauf steht eine kleine Vase mit Wiesenblumen. Um die Vase ist ein Stück Garn gebunden. Ich sitze das erste Mal seit Jahren wieder auf einer Eckbank.

Meine Mutter sagt, ihr widerstreben die Muster. Von den Vorhängen, den Polsterbezügen bis zum Verhalten der anderen. Einer von den Alten habe ihr beim Hinausgehen einen Blumentopf zerdeppert. Sie wolle aus dem alten Garten die Himbeersträucher hierherbringen und in die Töpfe pflanzen. Es finde sich draußen bestimmt Platz, und wenn nicht, dann hier drinnen. Der, der den Blumentopf zerdeppert hat, hat es nicht einmal bemerkt, sagt sie. »Und der direkt im Zimmer neben mir weint laut in der Nacht.«

»Immer was los«, sage ich.

Eine der Pflegerinnen sehe sie öfters auf der Bank im Gemeinschaftsraum schlafen, wenn keiner hinsieht, aber von den Alten sehe eigentlich immer wer hin. Das Personal überlegt, zu streiken. Mama wäre es recht.

»Mit mir haben sie es aber eh leicht«, sagt Mama. »Sagen auch die Pfleger, weil ich noch so jung bin, im Vergleich. Bei den anderen weiß man nie, vielleicht sind’s Nazis. Wer weiß, warum der nebenan weint.«

Ich verrechne in meinem Kopf das Alter meiner Mutter mit dem Alter, das nötig ist, um den Holocaust erlebt zu haben, und bemerke, dass ich zwischen alt und sehr alt wenig Unterschiede mache.

»Hast du ihn gefragt, warum er weint?«

Meine Mutter schüttelt den Kopf wild: »Ich hätte es auch nicht gern, wenn mich wer fragt, warum ich schnarche.«

Ich lache, weil ich zwischen weinen und schnarchen wiederum durchaus einen Unterschied machen würde. »Frag ihn mal«, sage ich in motivierender Stimmlage. Sie verdreht die Augen.

Ob sie das von mir oder ich von ihr hätte, frage ich sie. Endlich lacht sie.

Wir biegen ins Belanglose ab. Wir kennen uns wieder, sind einander wieder gewohnt.

Nach einiger Zeit versuche ich, einen Ausweg zu finden. Ich sage, dass ich im Haus einen neuen Topf für sie suchen werde. Sie gibt mir Tipps, wo ein sehr guter, genau richtiger Topf zu finden wäre, bis ich meine Jacke anhabe und bereit bin, zu gehen. Ich drücke meine Wange an ihre Wange und verschwinde mit Verabschiedungsfloskeln zur Tür hinaus. Nicht mehr alle Wünsche, die mir Mama nachruft, schaffen es, mit mir aus dem Zimmer zu entkommen.