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Michael Laczynski

Augen auf
und durch

Gebrauchsanweisung
für unruhige Zeiten

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Salzburg – Wien

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Umschlaggestaltung: Hanna Zeckau

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Barbara Köszegi

ISBN ePub:

978 3 7017 4574 6

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3441 2

Inhalt

1
Willkommen in unruhigen Zeiten

2
Ich bin ein Experte. Holt mich hier raus!

3
Was Sie schon immer über Trolle wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten

4
Ich seh, ich seh, was du nicht siehst

5
Wie man aus dem Rahmen fällt

6
Was man wissen muss, um in der Informationsflut nicht unterzugehen

7
Verloren im Universum der Meinungen – und was man dagegen tun kann

8
Augen auf und durch

Anmerkungen und Quellen

1

Willkommen in unruhigen Zeiten

»Die Zukunft ist nicht mehr das, was sie einmal war.«

YOGI BERRA

An einem klaren Frühlingsmorgen, am 18. April 2017, machte die 73-jährige Pensionistin Brenda gerade einen Spaziergang durch ihre Nachbarschaft in der südwestenglischen Stadt Bristol, als in London Premierministerin Theresa May vor die Tür ihrer Residenz trat, um die Ausrufung vorgezogener Neuwahlen zu verkünden. May, die von der innenpolitischen Sturmflut nach dem britischen EU-Austrittsvotum im Juni 2016 eher zufällig in die Downing Street 10 gespült wurde, erhoffte sich von der Neuwahl eine persönliche Bestätigung und ein Mandat, um mit jenen Querulanten innerhalb der Regierungspartei kurzen Prozess machen zu können, die nicht genug Enthusiasmus für den bevorstehenden Brexit an den Tag legten. »Die Saboteure müssen dran glauben!«, urteilten die Scharfrichter des Boulevardblatts »Daily Mail«, während sich auf den Regierungsbänken die Befürworter eines harten Bruchs mit Europa im Glauben wiegten, Mays zu erwartender Blitzsieg würde das perfide Brüssel in die Knie zwingen. Sobald die Wahl gewonnen sei, werde die EU den Briten all das gewähren, was sie ihnen bisher vorenthalten habe – nämlich alle Vorteile einer EU-Mitgliedschaft ohne lästige Pflichten wie Mitgliedsbeiträge oder Reisefreiheit für unliebsame Ausländer. Man werde sich endlich an dem ewig reichhaltigen Kuchenbüfett laben können, das Außenminister Boris Johnson den Briten im Vorfeld des Brexit-Referendums versprochen hatte.

Noch bevor May mit ihrer Rede an die Nation fertig war, schwärmten überall im Vereinigten Königreich die Reporter aus, um die Reaktionen der Öffentlichkeit auf die überraschende Ankündigung der Regierungschefin einzuholen. Wie würden die Menschen zehn Monate nach der aufwühlenden Abstimmung über die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union auf einen neuerlichen Urnengang reagieren? Für die BBC war in den Straßen von Bristol der Fernsehjournalist Jon Kay unterwegs. Er stieß auf eine dunkel gekleidete, ältere Dame mit gepflegtem, silbergrauem Kurzhaarschnitt und fragte sie vor laufender Kamera nach ihrer Meinung zu Mays Vabanquespiel.

Jon Kay: »Madam, Premierministerin Theresa May hat soeben vorgezogene Neuwahlen beschlossen.«

Brenda aus Bristol: »Das ist doch ein Scherz, oder? (fassungslos) Schon wieder eine Wahl? Lieber Gott, ich halte das nicht mehr aus … Es gibt zu viel Politik in diesem Land! Warum um Himmels Willen muss sie das ausgerechnet jetzt tun?«1

Warum bloß? Diese nicht gänzlich aus der Luft gegriffene Frage stellte man sich an diesem Tag nicht nur in Bristol. Im Lauf der nächsten Stunden avancierte das BBC-Interview mit der pensionierten Sekretärin zu einem der meistgesehenen Videoclips in Großbritannien. Im sozialen Netzwerk Twitter wurde #Brenda zum Synonym für den Überdruss der Briten an den nicht enden wollenden Grabenkämpfen zwischen den politischen Eliten des Landes, deren Interessen mit den Bedürfnissen der Bevölkerung immer weniger deckungsgleich zu sein schienen. Und als am Wahltag knapp zwei Monate später die Stimmen der »kleinen Leute von der Straße« ausgezählt waren, erhielten die Tories die Quittung: Anstatt zu triumphieren, verlor die Regierungspartei ihre Parlamentsmehrheit. Ihren Posten konnte Theresa May zwar durch einen Deal mit der nordirischen Regionalpartei DUP retten, ihre Reputation aber war irreparabel beschädigt. Und kein einziges Problem war gelöst. Die britische Gesellschaft war gespaltener, die Verhandlungen mit der EU über die Modalitäten des Austritts wurden schwieriger, die Zeit knapper und die Gräben zwischen Europafreunden und -feinden tiefer.

Der einzige, wenn auch schwache Trost: Das Image der politischen Entscheidungsträger Großbritanniens schien unter dem Wahldebakel nicht gelitten zu haben – im Gegenteil. Als Meinungsforscher des Instituts Ipsos MORI die Briten Ende 2016 nach ihrem Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Politiker gefragt hatten, hatten nur 15 Prozent eine positive Antwort gegeben. Ein Jahr später lag der Anteil bei 17 Prozent – eine leichte Verbesserung, aber immer noch weit vom Ergebnis des Jahres 2015 entfernt, als unglaubliche 21 Prozent der Briten die Politiker des Landes für aufrichtig gehalten hatten. Sollte dieser positive Trend anhalten, werden Politiker bereits in fünf Jahren so beliebt sein wie Journalisten, denen 2017 immerhin 27 Prozent der Befragten vertrauten.2 Davon ist allerdings nicht auszugehen, denn mit dem Vollzug des EU-Austritts am 29. März 2019 dürfte vielen Briten schlagartig bewusst werden, dass jenseits von Europa nicht die blühenden Landschaften liegen, die man ihnen versprochen hat.

Vorwärts in die Vergangenheit

Brenda aus Bristol traf den Nagel auf den Kopf: Es gibt in der Tat zu viel Politik. Und das nicht nur in Großbritannien, das gerade dabei ist, Harakiri mit Anlauf zu begehen. Oder in den USA, wo das Weiße Haus nach dem Wahltriumph von Donald Trump zu einer gepolsterten Krabbelstube umfunktioniert werden musste. Oder im Nahen Osten, wo derzeit ein groß angelegter Feldversuch läuft, ob sich ganze Staaten in die Steinzeit zurückprügeln lassen. Oder in China, wo die in feinstes Tuch gehüllte Avantgarde des Proletariats Lamborghini fährt, Austern schlürft und Zigarren schmaucht, während giftiger Smog durch die Metropolen der Volksrepublik wabert. Oder in Europa, das eigentlich aus den Fehlern seiner Vergangenheit lernen und alles besser machen wollte, aber nicht recht vom Fleck kommt, weil die bösen Geister der Vergangenheit Brückenköpfe in der Gegenwart errichtet haben – in Ungarn wie in Polen, in der Türkei wie in Russland, in Spanien wie in Italien und in Österreich. Wohin man auch blickt – Politik ist überall. Und anders als die altvertraute, harmlos wirkende Politik der vergangenen Jahrzehnte kommt die neue Politik wie ein maskierter Räuber daher, der in einer dunklen Seitengasse wehr- und ahnungslosen Passanten auflauert. Besonders gut auf den Punkt gebracht hat diese Wandlung die britische Autorin Ali Smith: Es ist, als ob die Demokratie eine Flasche wäre, die man zerschlagen kann, um jemandem damit wehzutun.3

Dabei war alles ganz anders geplant. Nachdem die ideologischen Gräben zwischen Ost und West zugeschüttet waren, sollte die Verwaltung der Welt langweilig werden – ohne Kulturkämpfe und Rüstungsspiralen. Im Lauf der 1990er-Jahre wurde Europa schrittweise zu einer progressiven Ganztagsschule umgebaut, in der Nationalstaaten gutes Benehmen, Budgetarithmetik und Business English lernen sollten. Die erzieherischen Maßnahmen, die im Lauf der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte gesetzt wurden, waren einerseits extrem erfolgreich – wer hätte es 1989, als der Eiserne Vorhang fiel, für möglich gehalten, dass der ehemalige Ostblock bereits 15 Jahre später der Europäischen Union beitreten würde? Andererseits aber blieb die europäische Erziehung oberflächlich. Und als Europa von einer Wirtschaftskrise erschüttert wurde und sich an ihren Außengrenzen Gewitter zusammenbrauten, brachen die alten Wunden wieder auf. Zu begutachten ist dieses Phänomen an den Rändern der Union – in Großbritannien, Polen und Ungarn, wo die politischen Entscheidungsträger wie besessen daran arbeiten, den alten Traumata neues Leben einzuhauchen. Je schriller die Lobeshymnen auf siegreich geschlagene Schlachten gegen den Erbfeind, je eindringlicher die Beschwörung vergangener Heldentaten, desto lauter der Ruf nach Wiedergutmachung alten Unrechts.

Für das Zusammenleben ist diese Haltung alles andere als förderlich. Was zusammenwachsen sollte, driftet wieder auseinander. Ein Teil Europas fühlt sich vom anderen Teil übervorteilt, fordert Respekt und finanzielle Zuwendungen. Die solcherart Angesprochenen wiederum sehen sich in der Rolle eines Wohltäters, der seine entfernten Verwandten zum Bankett eingeladen hat und sich nun mit den halbverhungerten Cousins dritten Grades um gepflegte Konversation bemüht, während diese nur Richtung Büfett schielen. Die Höflichkeit gebietet es, die undankbaren Gäste nicht einfach so vor die Tür zu setzen – außerdem haben sie sowieso einen Zweitschlüssel zum Festsaal und können jederzeit zurückkommen. Und selbst wenn man sie ein für alle Mal loswerden könnte – vor der Tür drängen sich bereits die nächsten Notleidenden in spe.

Was tun, wenn die Welt aus den Fugen gerät? Wie sollen Sie mit der Tatsache zurechtkommen, liebe Leserinnen und Leser, dass gefühlt jede zweite Nachrichtenmeldung wie die Zusammenfassung eines schlechten Horrorfilms klingt? Lange Zeit konnten wir uns damit trösten, dass die deutschsprachige Mitte Europas wohlhabend, stabil und – seien wir ehrlich – ein wenig langweilig war. Ersteres gilt nach wie vor, Zweiteres auch – wenn auch etwas weniger als früher –, doch mit der Langeweile ist es definitiv vorbei. Das liegt einerseits daran, dass in Deutschland und Österreich die innenpolitische Plattentektonik in Bewegung geraten ist. Es sickert langsam die Erkenntnis durch, dass weder die Große Koalition noch Angela Merkel für die Ewigkeit gemacht sind. Dass Wechsel, wie in Österreich von Rot-Schwarz zu Türkis-Blau, geschmeidig vonstattengehen können. Und dass sich die Bevölkerung überraschend schnell an die neue Farbpalette gewöhnt. Auf der anderen Seite sehen wir uns viel mehr als in der Vergangenheit mit dem Wohlstandsgefälle zwischen uns und dem weniger glücklichen Rest der Welt konfrontiert, weil sich zuletzt immer mehr Menschen aus den nicht mit Wohlstand und Frieden gesegneten Landstrichen auf den Weg Richtung Europa gemacht haben. Wir wurden von dieser Entwicklung überrumpelt und schwanken seither zwischen Hilfsbereitschaft, Überforderung und dem immer brennenderen Wunsch nach Ruhe.

Es ist ein harmlos klingender Wunsch mit weitreichenden Konsequenzen. Und zwar nicht nur für jene, auf deren Kosten die Ruhe wiederhergestellt werden soll, sondern auch für uns selbst. Denn unser Wunsch wurde in ein Produkt verwandelt. Das Ruheversprechen wird auf dem politischen Marktplatz wie eine Luxusware angeboten. Und die Bestanbieter sind immer öfter nicht die altehrwürdigen Handelshäuser aus der politischen Mitte, sondern fliegende Händler des Populismus: Solarium-gebräunte Vertretertypen, die Hemden eine Spur zu eng, die Schuhe einen Tick zu spitz, die Socken eine Farboktave zu bunt, die Uhren an den Handgelenken einige tausend Euro zu teuer und das Lächeln drei Tuben Perlweiß zu strahlend. Und sie wissen ganz genau, was die verunsicherte Kundschaft gerne hätte: nämlich die Rückkehr zur guten alten Zeit. Der mächtigste politische Slogan lautet heute »Es war einmal …«, um mit den Worten des Ideenhistorikers Mark Lilla zu sprechen.4 Früher wollte niemand aus der Zeit gefallen sein, mittlerweile sehnen sich alle danach.

Der Wunsch nach einem Notausgang aus der Gegenwart bezieht sich nicht nur auf die große Politik. Man muss kein Pessimist sein wie der Anfang 2017 verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman, der davon schreibt, dass unsere in Unruhe geratene Welt »Schauplatz eines Krieges aller gegen alle und damit gegen niemand Bestimmten«5 geworden ist, um zu bemerken, dass mit unserem Alltag irgendetwas nicht mehr stimmt. Dieses Irgendetwas lässt sich weder eingrenzen noch beschreiben, sondern nur erspüren. Es fühlt sich an wie ein lästiger Juckreiz auf der Hirnrinde – an einer Stelle also, die sich nicht kratzen lässt, weil man dazu die Schädeldecke abheben müsste. Das Gefühl setzt sich aus unzähligen, mikroskopisch kleinen Einzeleindrücken zusammen, die, so stellen wir uns das vor, ein Gesamtbild ergeben müssten. Doch an dieser Herausforderung scheitern wir.

Die neue Ungemütlichkeit

Welche Mosaiksteine liegen vor uns? Da wäre zunächst einmal der real zunehmende ökonomische Druck. Wir spüren ihn, wenn wir davon lesen, dass in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft bereits jede zweite Berufstätigkeit von programmierten Maschinen verrichtet werden soll. Oder dass das nächste Unternehmen seine Zelte abbricht, um die Produktion ins weit entfernte, dafür aber umso billigere Ausland zu verlegen. Wir werden unruhig, wenn wir die Immobilienanzeigen studieren und merken, dass die Wohnungspreise unserem Einkommen davongaloppieren. Oder wenn wieder einmal davon die Rede ist, dass das Pensionsniveau langfristig nicht zu halten sei. Wir sind irritiert, wenn das Glas Qualitätswein im Lokal ums Eck fünf Euro kostet und im Kaffeehaus der kleine Mokka an der Drei-Euro-Marke kratzt. Wenn davon die Rede ist, dass in Europa die Preise bemerkenswert stabil seien – nur leider, leider nicht bei uns. Oder wenn beim Abendessen mit Freunden die Rede auf die Zukunft kommt und am Tisch alle leise zu rechnen beginnen, wer wie viel erben wird und ob es ausreicht, um sich den Lebensstil der Mittelschicht weiter leisten zu können.

Apropos Mittelschicht: Zumindest in unserem Teil der Welt ist das Mehrheitsmilieu nach wie vor relativ stabil. Die jüngste Vermessung der europäischen Mittelschicht, die das Forschungsinstitut Pew Research 2017 durchgeführt hat, ergab, dass im Zeitraum 1991 bis 2010 die Haushaltseinkommen in der breiten Mitte der Skala in Frankreich, den Niederlanden, Irland und Großbritannien gewachsen, in Spanien, Italien, Finnland und Deutschland dagegen leicht geschrumpft sind.6 So weit, so beruhigend. Im Jahr 2010 brach allerdings die europäische Schuldenkrise aus, die in den betroffenen Ländern eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hat. Die letzten Jahre waren nicht gnädig zu uns. Ohne Krise hätten wir es viel besser haben können. Haben wir aber nicht. Dafür werden im Abwehrkampf gegen die Abwärtsmobilität die Einsätze immer höher, weil der drohende Fall immer tiefer erscheint.

Um nicht zurückzufallen, versuchen wir, alles richtig zu machen – richtiger Job, richtige Freizeitbeschäftigungen, richtige Bildung, richtige Freunde, richtige Partner, richtige Kinder, richtiger Lifestyle. Doch die Wirkung unserer Maßnahmen lässt spürbar nach, während die Wirkkraft des Geldes ebenso spürbar zunimmt. Ein Beispiel: Lange Zeit hatte es geheißen, dass man sich auch ohne viel Geld gut und gesund ernähren könne – man müsse es nur so machen wie die Südländer und viel Grünzeug essen, möglichst auf rotes Fleisch verzichten und die Speisen mit viel Olivenöl zubereiten. Was aber soll man tun, wenn die jüngsten wissenschaftlichen Untersuchungen zum Schluss kommen, dass die mediterrane Kost nur dann vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützt, wenn man zur Oberschicht gehört?7 Oder wenn das Kontosaldo in den digitalen Partnerbörsen zum wichtigsten Auswahlkriterium vor Charisma, Humor oder gutem Aussehen aufrückt?8 Je umfassender die Bedeutung der eigenen Position auf der sozialen Leiter, desto größer die Angst vor einem unfreiwilligen Abstieg. Und desto wichtiger die Verteidigung der eigenen Privilegien – auch auf Kosten der Mitbürger.

Dieser selbst auferlegte Zwang zum korrekten Leben ist der zweite Teil unseres Puzzles. Zusätzlich verstärkt wird dieser Zwang dadurch, dass sich die Leben immer genauer vermessen lassen. Und damit meine ich nicht nur die allgegenwärtigen Schrittzähler, Pulsmesser und Kalorientabellen, die in unseren Mobiltelefonen verbaut sind. Der Messzwang nimmt immer absurdere Formen an – so will beispielsweise das altehrwürdige britische Wochenmagazin »The Economist« herausgefunden haben, dass US-Bürger pro Minute auf Facebook vier Millionen »Likes« hinterlassen und ihren Gedärmen im selben Zeitraum drei Millionen Winde entweichen.9 Mit der Vermessung der Welt geht eine Standardisierung einher, die uns bedrohlich erscheint, weil wir uns nicht in eine Schublade zwängen lassen, sondern als Individuen wahrgenommen werden wollen. Wir verbrennen fleißig Kalorien, gehen die vom guten Smartphone-Geist empfohlenen 10 000 Schritte pro Tag, sammeln Online-Freunde, klicken in den sozialen Netzwerken auf die richtigen Knöpfe, empören uns über das Böse und erfreuen uns am Guten – und kriegen trotzdem das Gefühl nicht los, dass wir immer austauschbarer werden. Die Tatsache, dass man sowohl sein Bankkonto als auch seine Freundschaften mit denselben Wischgesten am Touchscreen verwalten kann, erscheint uns selbstverständlich.10 Und zugleich degradiert uns diese Mechanisierung der Interaktion zum kleinen Zahnrad in einer großen Maschine.

Ratlos im Netz

Damit wären wir im Maschinenraum des Alltags angelangt – dem Internet, unserem dritten Mosaikstein. Das World Wide Web verheißt den totalen Überblick, doch in der Realität wissen wir zwar immer mehr, und zugleich verstehen wir immer weniger. Der Grad der Vernetzung scheint in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu unserem Überblick zu stehen. Was auch damit zu tun hat, dass das Internet großartig ist, um uns mit Informationen zu versorgen, uns aber die lästige Pflicht zur Sortierung und Einordnung dieser Informationen nicht abnehmen kann. Wer über das nötige Grundwissen verfügt, um die Informationsfluten zu teilen wie Moses das Rote Meer, für den ist das Internet ein Segen. Für den mit intellektuellen Gaben weniger gesegneten Teil der Menschheit erscheint es zunehmend wie der Fluch des Pharao – und das ist wortwörtlich gemeint, wie britische Regierungsbeamte im Jahr 2016 herausfinden mussten. Als Meinungsforscher des Instituts YouGov von den Briten wissen wollten, auf welche potenziellen Katastrophen sich die Regierung vorbereiten sollte, nannten (je nach Parteizugehörigkeit) sechs bis zehn Prozent der Befragten einen drohenden Angriff der Untoten.11

Doch selbst rationale Skeptiker tun sich zusehends schwer damit, den Überblick zu bewahren. Und zwar, weil sich mittlerweile so gut wie jede Erkenntnis sofort infrage stellen lässt, denn die Desinformation ist nur einen Mausklick weit entfernt. Auf jede Beschreibung eines offensichtlichen Missstands folgt ein »Ja, aber …«. Klimawandel – war der letzte Winter nicht ausgesprochen frostig? Automatisierung – hat bis dato nicht jeder Fortschrittsschub mehr Wohlstand gebracht? Populismus – muss nicht jeder Politiker auf das Volk hören? Ungleichheit – geht es der Wirtschaft nicht immer besser? Und so weiter, und so fort. Vielleicht liegt es ja auch an uns. Sind wir möglicherweise so im ironischen Hinterfragen geübt, dass wir unbewusst versuchen, zu allem und jedem einen Abstand herzustellen, um uns die emotionalen Nebenwirkungen des Wandels zu ersparen?

Der Hang zum Relativieren speist sich auch aus einem Gefühl der Ohnmacht: Wer nichts an der Sache selbst zu ändern vermag, kann wenigstens den Sachverhalt infrage stellen, um sich auf diese Weise besser zu fühlen. Allerdings nähern wir uns mit hoher Geschwindigkeit dem logischen Endpunkt dieser Überlebensstrategie: Wenn sich nämlich alles relativieren lässt, können wir dann überhaupt noch festen Boden unter den Füßen haben?

Eher nicht.

Die ersten Vorboten dieses Endstadiums sind jene Mitmenschen, denen mit Fakten nicht mehr beizukommen ist, die von Experten ebenso wenig halten wie von Wissensvermittlern und die sich stattdessen von der Wut im Bauch leiten lassen. Diese zunächst im Internet praktizierte Art des Umgangs – oder besser gesagt Nicht-Umgangs – mit Tatsachen schwappt zusehends in die analoge Welt hinüber. Ein wenig erinnert diese Entwicklung an die erfolgreiche Fernsehserie »Stranger Things«, in der die Einwohner der fiktiven Kleinstadt Hawkins im US-Bundesstaat Indiana gegen Monster kämpfen, die aus einer Schattenwelt in die Wirklichkeit eindringen. Auch zwischen Online und Offline gibt es einen Riss – und 2016 war das Jahr, in dem die Kreaturen aus der Parallelwelt der sozialen Medien in die analoge Realität durchbrachen und Donald Trump zum Wahlsieg verhalfen. In der Fernsehserie lässt sich der Riss zwischen den Welten erst dank übermenschlicher Kräfte schließen. In der Realität müssen wir mit Mark Zuckerberg vorliebnehmen. Der Chef von Facebook spricht zwar gerne davon, dass er die Welt besser machen will, tatsächlich aber scheitert auch er, wie wir Normalsterbliche, am digitalen Alltag. Wer den Beweis dafür haben will, dass sich in einem sozialen Netzwerk selbst dessen Schöpfer zwangsläufig zur Lachnummer machen muss, braucht nur das im Netz verfügbare Video von einer Grillparty bei den Zuckerbergs anschauen, bei der ein mit Sensoren gespickter Hightech-Griller dem Halbgott der New Economy dazwischenfunkt.12

Der Befund, dass der Druck zunimmt und sich keiner mehr auskennt, mag zwar zutreffend sein, doch er ist weder neu noch befriedigend. Das Resultat dieser Erkenntnis ist das Buch, das Sie gerade in Händen halten. Es ist der Versuch, einen Weg aus dem Irrgarten des mitteleuropäischen Alltags anno 2018 zu finden. Sie werden unter anderem erfahren, wie man sich gegen haltlose Vorwürfe und gefährliches Halbwissen wehren kann, warum bis dato harmlose Mitmenschen zu digitalen Wegelagerern mutieren, was zu tun ist, um nicht in Denkfallen zu tappen, weshalb Diskussionen heutzutage immer öfter entgleisen, was sich dagegen unternehmen lässt und worauf Sie achten müssen, um sich nicht im Informations-Dschungel zu verlaufen.

Für Kopfarbeiter galt die letztgenannte Fähigkeit lange Zeit als Conditio sine qua non. Doch Überblick schützt nicht vor ungerechtfertigter Kritik. Dass Fachwissen von Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird und »Du Experte!« zum Schimpfwort verkommen ist, ist ein relativ junges Phänomen, das (zumindest vorläufig) in den USA und Großbritannien stärker ausgeprägt zu sein scheint als hierzulande. Für diejenigen unter Ihnen, die im Berufsalltag auf Gehirnarbeit angewiesen sind, ist das ein schwacher Trost. Wie sich verhalten, wenn Ignoranz auch bei uns zur Kardinaltugend erklärt wird? Sollen Sie kämpfen oder flüchten, untertauchen oder mit den Wölfen heulen? Auf den folgenden Seiten erfahren Sie, wie Experten in unruhigen Zeiten überleben können.

2

Ich bin ein Experte.
Holt mich hier raus!

»Ich bin sehr hochgebildet. Ich kenne Worte.
Ich habe die besten Worte.«

DONALD TRUMP

Sie sind also gebildet und wortgewandt, ein Titan der geistigen Arbeit, der mit der Anhäufung und Verarbeitung von Wissen seinen Lebensunterhalt verdient? Herzliches Beileid. Sie haben das Pech, in einer Zeit zu leben, in der intellektuelle Unterscheidungsmerkmale ebenso wenig wohlgelitten sind wie das starrsinnige Festhalten an dem Glauben, es gäbe so etwas wie verifizierbare Fakten, an denen es nichts zu rütteln gibt. Abseits Ihrer geschützten Werkstätte wird allerdings gerüttelt, was das Zeug hält. Und es gibt dort sehr viele alternative Fakten, die nur darauf warten, gewürdigt zu werden. Oder, um mit den Worten des Public-Relations-Gurus Richard Edelman zu sprechen: »In dieser Ära der explodierenden Medienvielfalt gibt es keine definitive Wahrheit außer derjenigen, die man selbst kreiert.«13 Sofern Sie, lieber Experte, kein begnadeter Öffentlichkeitsarbeiter, keine Rampensau im Cyberspace sind, ist diese Entwicklung keine Verheißung, sondern eine gefährliche Drohung. Denn die Zahl der Informationskanäle und Ihre gesellschaftliche Position stehen in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander: Während die Zahl der im Umlauf befindlichen Wahrheiten explodiert, implodiert Ihr Selbstwertgefühl. Vorbei die Zeiten, in denen man mit stolzgeschwellter Brust durchs Leben schreiten konnte, sicher in dem Glauben, zur Geisteselite zu gehören.

Damit Sie an dieser Stelle nicht vollends in der Verzweiflung versinken (und dieses Buch in die Ecke schmeißen), sei eines vorweg gesagt: Es gibt erstens Hoffnung und zweitens erprobte Methoden, um mit dieser Situation umzugehen und das Beste aus ihr zu machen. Doch bevor wir zum praktischen Teil schreiten, gilt es, die Gefechtslage zu analysieren und zwei Fragen zu beantworten: Wie begründet sich die bisher hohe soziale Stellung der Experten und warum sind sie momentan so sehr unter Beschuss?

Aufstieg und Fall einer Elite

So richtig attraktiv wurde die Berufslaufbahn Experte in der grauen Vorzeit, als die Jäger und Sammler sesshaft wurden, auf Landwirt bzw. Leibeigener umsattelten und der Bedarf an Organisatoren des aufgrund des neuen Lebenswandels komplexer gewordenen Alltags entstand. Diese Organisatoren trugen lange Bärte, wallende Gewänder und die Berufsbezeichnung Hohepriester. Sie arbeiteten in gemauerten und für die damaligen Verhältnisse geradezu verschwenderisch ausgestatteten Tempeltürmen, verfolgten die Laufbahnen der Himmelskörper, suchten in den Eingeweiden von kleinen Tieren nach Hinweisen auf das Wetter, schlichteten Streitigkeiten, stellten Horoskope, gaben ungefragt Ratschläge – und nahmen sich generell sehr wichtig. Woran sich im Lauf der Jahrtausende, im Gegensatz zu Berufsbekleidung, Wissensstand und Arbeitsort, vergleichsweise wenig geändert hat (wobei die Ähnlichkeiten zwischen einer babylonischen Stufenpyramide und einem Büroturm nicht zu unterschätzen sind).

So viel zur guten alten Zeit. Für das heutige Selbstverständnis der Expertenschaft viel wichtiger sind indes zwei Begriffe, die in den 1950er- und 1960er-Jahren von einem australischen Soziologen und einem kanadischen Wirtschaftsforscher geprägt wurden: »Meritokratie« und »Technostruktur«. Ersterer geht auf das Konto des britischen Sozialwissenschaftlers Michael Young und beschreibt eine Gesellschaft, in der Talent, Wissen und Intellekt die einzigen Faktoren sind, die die Position des Einzelnen auf der sozialen Leiter bestimmen.14 Der von Young erfundene Begriff machte eine Weltkarriere, obwohl sein Schöpfer ihn eigentlich ironisch gemeint hatte. Doch gegen den Hunger der westlichen Nachkriegsgesellschaft nach einer, nun ja, wissenschaftlichen Legitimierung der Wissensarbeit kam Youngs Warnung vor dem blinden Glauben an die Allmacht des Intelligenzquotienten nicht an. Die intellektuellen Gehirnathleten wollten gefeiert werden.

Zusätzliche ideologische Bestätigung lieferte der Ökonom John Kenneth Galbraith, aus dessen Feder Begriff Nummer zwei stammt. Als »Technostruktur« definierte er eine »Kombination aus Wissen und Können«, die durch das Management personifiziert wird.15 Diese in graues Flanell gehüllte Männerschar (denn zum damaligen Zeitpunkt waren die oberen Hierarchien fast ausschließlich von Männern besetzt) lenkte die Geschicke von Staaten und Unternehmen nach rationalen, wissenschaftlich streng verifizierten Prinzipien zum Wohle der Allgemeinheit.

Die Ära von Young und Galbraith liegt nur wenige Jahrzehnte zurück und erscheint dennoch wie ein längst untergegangenes goldenes Zeitalter – und zwar nicht nur aufgrund der Tatsache, dass der heutige Durchschnittsbürger beim Präfix »Techno-« tendenziell nicht an die Prinzipien des wissenschaftlichen Managements denkt, sondern eher an ohrenbetäubende Umpfta-Umpfta-Musik, die Love Parade und DJ Bobo. Dass jemand wie der konservative britische Justizminister und EU-Austrittsbefürworter Michael Gove (übrigens ein Absolvent der Eliteuniversität Oxford) im Vorfeld des Brexit-Referendums im Frühjahr 2016 unter großem Applaus behaupten konnte, die Briten hätten »die Nase voll von Experten«16, hängt auch damit zusammen, dass sich die in der Öffentlichkeit agierenden Entscheidungsträger im Lauf der vergangenen Jahre nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben.

Damit wären wir bei einer schmerzhaften Wahrheit angelangt: der durchwachsenen Performance der Wissensarbeiter. An dieser Stelle sind natürlich nicht Sie gemeint, lieber Leser, liebe Leserin, sondern jene Scharlatane, auf deren Anraten Politiker die Sektenkriege im Nahen Osten angefacht und die Finanzspekulanten entfesselt haben, auf deren Konto wachsende Ungleichheit, Globalisierung, Automatisierung, Dieselskandal und Glühbirnenverbot gehen – so ähnlich lautet jedenfalls der Vorwurf, den Volkes schrille Stimme erhebt. In der Tat waren viele Handlungsanweisungen, die in den vergangenen Jahren ex cathedra erteilt wurden, gut gemeint, aber leider falsch. Man könnte das als bedauerliche Einzelfehler abtun, wäre da nicht eine wachsende Zahl von Indizien dafür, dass es ein grundsätzliches Problem mit Expertise gibt.

Die unbestrittene Autorität auf dem Gebiet der Expertenforschung ist der US-Psychologe Philip Tetlock, der seit Jahrzehnten herauszufinden versucht, wie Wissensarbeiter zu ihren Einsichten kommen – und wann sie danebenliegen. In einem groß angelegten, über mehrere Jahre laufenden Feldversuch sammelte der Experten-Experte weltweit knapp 30 000 konkrete Vorhersagen von Politik- und Wirtschaftskennern und verglich diese Prognosen mit den Vorhersagen zweier Testgruppen: zum einen nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Nichtexperten, zum anderen einem simplen Computerprogramm, das seine Antworten wie bei einem Multiple-Choice-Test auf alle vorhandenen Möglichkeiten proportional verteilt.17 Das Ergebnis des Experiments war niederschmetternd: Die Fachleute waren im Schnitt nicht besser als Laien, und beide schnitten in weiten Teilen schlechter ab als der Algorithmus – was Tetlock zu der Bemerkung veranlasste, auf dem Weg vom Schimpansen zum Statistiker habe der Mensch bis dato nur eine kurze Strecke zurückgelegt.

Potenziert wird das Problem der Fehlerquote durch die Sichtbarkeit. Wer anno dazumal falschlag, konnte immerhin darauf hoffen, dass sein Fehler niemandem auffiel – und wenn doch, dass darüber der Mantel des Schweigens gebreitet werden konnte. Vorbei die Zeiten, in denen das Parlament unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagte und Politiker ihren Dienst an der Gemeinschaft unter Einnahme hochprozentiger Aufputschmittel leisten konnten wie einst der Labour-Abgeordnete Edwin Wainwright, der im Jahr 1983 bei einer Rede im House of Commons, dem britischen Unterhaus, derart illuminiert war, dass er keinen geraden Satz von sich geben konnte. Doch anstatt ihn an den Pranger der Öffentlichkeit zu stellen, bewies der parlamentarische Protokollar Taktgefühl und hielt lediglich fest: »Mr. Wainwright machte eine Reihe von Beobachtungen.«18 Im Zeitalter der Handykameras, der sozialen Netzwerke und Liveübertragungen aus dem Plenarsaal wäre die politische Laufbahn des trinkfreudigen Abgeordneten rasch vorbei gewesen. Im Gegenzug könnte Mr. Wainwright heutzutage immerhin eine Karriere als YouTube-Star ins Auge fassen.

Krisenhilfe für Experten

Unsere Ausgangslage stellt sich also folgendermaßen dar: Erstens – Experten sind nicht unfehlbar. Zweitens – sie sind auch keine Autoritätsfiguren mehr. Drittens – sie haben aufgrund früherer Verfehlungen eine denkbar schlechte Presse. Und viertens – die Laien haben an der Rolle des Inquisitors Gefallen gefunden und treiben die verunsicherten Denker vor sich her. Was also tun?