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Catalin Dorian Florescu

Die Freiheit
ist möglich

Über Verantwortung, Lebenssinn
und Glück in unserer Zeit

Aus der Reihe »UNRUHE BEWAHREN«

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Unruhe bewahren – Frühlingsvorlesung & Herbstvorlesung.

Eine Veranstaltung der Akademie Graz in Kooperation mit dem

Literaturhaus Graz und DIE PRESSE.

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Die Herbstvorlesung zum Thema »Die Freiheit ist möglich« fand am 30. 11. und am 01. 12. 2017 im Literaturhaus Graz statt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2018 Residenz Verlag GmbH

Wien – Salzburg

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Redaktion: Harald Klauhs, Astrid Kury

Wissenschaftliche Beratung: Thomas Macho, Peter Strasser

Umschlaggestaltung: Kurt Dornig

Lektorat: Jessica Beer

ISBN e-Book 978-3-7017-4579-1

ISBN Print 978-3-7017-3445-0

Inhalt

1. Einführung

2. Du sollst mir deine Aufmerksamkeit schenken, auf dass ich Geschäfte damit mache.

3. Du sollst dich nicht festlegen, auf dass du frei seist.

4. Du sollst dich nicht von anderen unterscheiden, auf dass du geliebt wirst.

5. Du sollst denken, auf dass du nicht fühlst.

6. Du sollst nicht bezogen sein, auf dass du nichts verantworten musst.

7. Erziehung zur Freiheit

8. Verantwortetes Leben

Danksagung

Literaturverzeichnis

Wenn ich hier stehe

das Gesicht erleuchtet im Dunkeln

wenn ich mir erscheine

im digitalen Quadrat

wo stehe ich

Svenja Herrmann
aus dem Gedichtband »Die Ankunft der Bäume«

Einleitung

Vor einigen Jahren erschien ein schmales Werk mit einem ähnlichen Imperativ wie der Titel dieser Reihe »Unruhe bewahren«. Es hieß: »Empört euch!« Es geisterte eine Zeit lang durch die Medien und wurde millionenfach verkauft. Was ist heute von diesem fast verzweifelten Aufruf zur Empörung geblieben? Welche nachhaltige Wirkung entfaltete er überhaupt?

Das System »sitzt« – um es so auszudrücken – so fest wie immer im Sattel, Geschäft bleibt wie immer Geschäft, die natürlichen Ressourcen werden wie immer geplündert, die Armen werden vertröstet, die breiten Massen schweigen und konsumieren um die Wette. Oder sie folgen dem Takt, der ihnen von Populisten vorgegeben wird, auch und gerade bei uns in Europa.

Der Mensch verausgabt sich im täglichen Bemühen, fit und attraktiv auf dem Arbeits- und Partnermarkt zu bleiben. Das Rad dreht sich immer schneller, alles ist in ständiger Bewegung, nichts darf ruhen, es herrschen Geschwindigkeit und Flüchtigkeit. Von den Glücksverheißungen, die uns als Trost angeboten werden, bleibt oft nicht viel mehr als ein vages Unbehagen übrig. Hört hier jemand noch den Ruf: »Empört euch!«?

Die Aufklärung – das westliche Projekt, vernünftige und (selbst)verantwortliche Individualität durch Bildung, Erziehung und Kultur zu ermöglichen – scheint ihre Grenzen erreicht zu haben. Oder war sie nie mehr als nur ein Versprechen? Sie weist große Verdienste auf bei der Befreiung des Menschen aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit«, wie Kant es formuliert hat. Aber sie ist auch ein Teil des Problems und nicht nur der Lösung, dort wo sie »totalitär« wird, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer meinten, weil sie das gesamte Leben in Abstraktheit, Theorie, Rationalisierung, Zahl verwandelt.

Sollten René Descartes’ berühmten Satz »Cogito ergo sum« – der als Inbegriff der Aufklärung gilt – nicht viel eher abwandeln in »Ich bin mit dir, also bin ich«? Als Zeichen dafür, dass menschliches Leben und Identität sich nicht nur im Kopf ereignen, und damit in der Abstraktion, sondern in der konkreten Bezogenheit?

Wenn wir das obige eurozentrische Bild durch eine summarische Bestandsaufnahme der gesamten Welt erweiterten, hätten wir noch mehr Grund, uns ohnmächtig zu fühlen. Das Konsumverhalten in den Schwellenländern nimmt kontinuierlich zu, was die begrenzten Ressourcen der Erde weiter verknappt.

Wohlstand ist auch ohne Demokratie und Freiheit möglich, das macht uns das chinesische Regime täglich vor. Der hoffnungsvolle »Arabische Frühling« vor wenigen Jahren wurde vielerorts von Krieg und erneuter Unterdrückung abgelöst. Die Türkei ist eine kaum noch verhüllte Diktatur, Russlands Demokratie reinste Augenauswischerei. Und Afrika verliert seine Söhne und Töchter im Mittelmeer.

Und doch: Gibt es nicht auch Grund zur Hoffnung? Immerhin gehen Tausende auf die Straße, um gegen die Aushöhlung der Demokratie in Polen und Ungarn zu protestieren, gegen die Regierung von Donald Trump oder gegen die weißen Rassisten, wie zuletzt in Virginia. Die Einsicht, dass nachhaltiges Wirtschaften und soziale Verantwortung notwendig sind, breitet sich nach und nach auch in unternehmerischen Kreisen aus.

Viele Bürger treten NGOs bei oder üben Freiwilligenarbeit aus, vom Wunsch getrieben, sich in der Welt nach Kräften einzubringen und sinnvoll mit ihr verbunden zu sein. Sie haben einen klaren Gerechtigkeitssinn, moralische Vorstellungen und empören sich wahrscheinlich sogar, und ihre Empörung drängt zur Tat. Bei ihnen hätte – und hat womöglich auch – Stéphane Hessel mit seinem Manifest »Empört euch!« offene Türen eingerannt.

Reicht das, um uns hoffnungsvoll zu stimmen, was einen veränderten Umgang des Menschen mit seinem Gegenüber und seiner Umwelt betrifft? Kleine Zugeständnisse des Systems im Rahmen des Möglichen konnte man immer schon erwirken, wenn sie auch oft hart erkämpft werden mussten und ihre dauerhafte Umsetzung nie gesichert war. Ein grundlegender Paradigmenwechsel, ein Neudenken dessen, was menschliches Leben lebenswert und reich macht? Da müssen wir skeptisch bleiben.

Ich benutze hier den Begriff »System« bewusst mit einer gewissen Unschärfe. Dabei habe ich vor allem zwei Aspekte vor Augen, die das »System« bestimmen und einander ergänzen, wie die zwei Seiten einer Medaille. Einerseits ist es jenes sichtbare Geflecht aus Normen, Gesetzen und Glaubenssätzen, die unser wirtschaftliches und soziales Leben ausmachen. Man könnte es das »herrschende« System nennen, in unserem Fall der moderne Kapitalismus. Aber dieses Geflecht hat auch eine unsichtbare Seite, so wie ein großer Teil der Wurzeln eines Baums unterirdisch ist. Es wird getragen von anonymen Menschen aus allen Klassen und Schichten – von uns allen letztendlich –, die seine Regeln und Maximen in ihre Identität aufgenommen haben und sie nicht hinterfragen. Sie verkörpern es bis zur Perfektion und stützen es.

Den Appell »Unruhe bewahren« könnte dasselbe Schicksal ereilen wie »Empört euch!« Gut gemeint, gut gebrüllt vielleicht, aber er verhallt ungehört. Man kann nämlich Empörung und Unruhe kaum verschreiben, so wie früher Ärzte Bergluft und Ruhe verschrieben, wenn sie nicht mehr weiterwussten. Auch ähnelt der Aufruf, Unruhe zu bewahren, jenem paradoxen Appell an den Depressiven, sich nicht depressiv zu fühlen.

Aber was ist hier überhaupt mit Unruhe gemeint? Kaum die Unruhe des Kokainsüchtigen, der sich mit der Droge lebendiger und leistungsfähiger fühlt. Kaum die Unruhe des Börsenmaklers, der in Echtzeit auf mehreren Bildschirmen die Entwicklung von Kursen verfolgt und Geld nicht durch das Herstellen eines realen Produkts verdient, sondern durch virtuelle Zahlenmagie. Kaum die Unruhe des postmodernen Konsumenten, der nicht im Augenblick lebt, sondern zwischen Augenblicken, immer auf der Suche nach dem besonderen Kick. Mit einem diffusen Lebensgefühl und einem ebenso diffusen moralischen Empfinden. Und ebenfalls kaum die Unruhe einer narzisstischen Ära, wie sie Donald Trump verkörpert: selbstbezogen, sprunghaft, mitteilungsbedürftig und Twitter-süchtig.

Die Unruhe, die ich mir vorstelle, braucht eine emotionale Gestalt, sonst bleibt sie nur die diffuse psychische Energie, die auch den Kokainsüchtigen, den Börsianer, den Konsumenten, den Narzissten antreibt. Sie führt uns kurz auf die Straße, damit wir dort ein wenig protestieren, und verpufft wieder. Sie lässt uns unzufrieden und zornig werden, ohne etwas zu verändern. Sie ermüdet uns. Welche emotionale Färbung könnte sie haben? Die der Wut angesichts der Missstände? Die der Empathie? Oder ist es die schöpferische Unruhe eines Menschen, der diese konzentriert und feinfühlig in Kunst verwandelt? Der Kunstwerke erschafft, in denen die Welt auf persönliche Weise Gestalt erhält?

Jede Menge Fragen. Wenn wir uns noch dazu vergegenwärtigen, dass der Konsumkapitalismus sich alles einverleiben und alles neutralisieren kann, auch die Kritik an ihm – wie muss der Buchmarkt über den Erfolg von »Empört euch!« gejubelt haben –, könnten wir unsere Hoffnungen begraben. Jede Kritik gleicht einem Schattenboxen. Von diesem Nullpunkt aus können wir aber auch wieder beginnen zu hoffen.

Angesichts einer sehr unruhigen Zeit könnte man eigentlich auch das Gegenteil fordern: Ruhe bewahren. Der ruhige, selbstbestimmte, beziehungsfähige Mensch ist der wahre Gegenpol zu unserem Zeitalter. Der Mensch, der sich auch seiner Fehlerhaftigkeit, seiner Begrenztheit, seines Unvermögens bewusst ist, doch jedes Mal, wenn er Gefahr läuft, sich zu verlieren, zurück zu sich selbst findet, zu seiner sicheren Basis.

Damit es nicht nur bei einem kurzen Aufflackern der Empörung oder einer moralisch diffusen Unruhe bleibt, sollten wir uns über unsere Zeit im Klaren sein: über das spätkapitalistische, postmoderne Zeitalter. Welche Bedingungen für das Gedeihen der Persönlichkeit stellt es zur Verfügung oder behindert es dieses nicht viel eher? Es hat seine eigene Beschaffenheit und Verführungskraft, seine eigenen Belohnungen und Bestrafungen, bietet Chancen für die Befreiung des Individuums und kennt ebenso viele Sackgassen.

Schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts stellten namhafte Denker dem fortgeschrittenen Kapitalismus und seinem Zersetzungspotential ein besorgniserregendes Zeugnis aus. Damals befand man sich an der Schnittstelle zwischen dem sogenannten »schweren« Kapitalismus – der mit der Industrialisierung begonnen hatte, konkrete Waren produzierte und bei dem die Wertschöpfung an ebenso konkrete Herstellungsorte wie Fabriken und Fließbänder gebunden war – und dem »leichten« von heute, bei dem ein Laptop und ein Platz im Kaffeehaus genügen. Bei dem uns tagein, tagaus nicht mehr Fragen beschäftigen, die mit konkreter Realität zu tun haben, sondern mit den Vorgaben und Erfindungen von Silicon Valley.

Wie kann man den Menschen heute befähigen, seine Individuation voranzutreiben und eine integrierte Persönlichkeit zu werden? Will er das überhaupt? Ist er nicht zu beschäftigt zwischen der routinierten, zwanghaften Überprüfung der eigenen Facebook-Seite und der leichten Unruhe, die ihn nach dem akustischen Signal einer gerade erhaltenen SMS erfasst? Ist ihm der fragile Frieden, den er mit sich selbst für die Dauer seiner virtuellen Manipulationen geschlossen hat, nicht dienlicher?

Wer kann hier Abhilfe leisten, nachdem die großen sozialen und ökonomischen Utopien, Kommunismus und Kapitalismus, sich angesichts ihrer Exzesse gründlich diskreditiert haben? Die Familie, die Schule, eine wahrlich humanistische Pädagogik, gar die Politik? Kunst vielleicht? Wäre ein Aufbau von unten, von den Wurzeln der Persönlichkeit her, nicht viel zu langsam? Läuft uns nicht die Zeit davon? Ist nicht schon alles verloren?

Wenn wir nicht weiterhin neue Gesellschaftsutopien produzieren wollen, die sich ins Unmenschliche verkehren; wenn wir unser Schicksal nicht Politikern überlassen wollen, die zu oft opportunistisch dem System dienen und deren Macht von der Wirtschaft stark begrenzt wird; wenn wir unser Leben nicht einfach der Technik überverantworten wollen, in der Hoffnung, dass sie alles regelt, während wir weiter selbstentfremdet leben und an unserem Lifestyle nichts ändern, dann müssen wir uns fragen, welches Menschenbild wir vertreten und verwirklichen wollen. Und ob das Menschenbild, das der heutige Zeitgeist fördert, den wahren menschlichen Bedürfnissen entspricht.

Es darf nicht sein, dass wir uns restlos in jenes Menschenbild einfügen und es übernehmen, das uns von einem außer Rand und Band geratenen Kapitalismus angeboten wird und von seinen Erfüllungsgehilfinnen, der Digitalisierung und Virtualisierung auf der einen Seite und der Postmoderne auf der anderen.

Erich Fromm beschrieb in seinem Buch aus den Fünfzigerjahren »Wege aus einer kranken Gesellschaft« den Charakter von Individuen, die in ihren Einstellungen das kapitalistische System abbilden: Überindividualisierung, Leistungs- und Profitorientierung und die Neigung, sich als eine Ware zu betrachten, die sich auf einem Markt voller anderer menschlicher Waren behaupten muss. Solche Individuen teilen miteinander denselben »Defekt«, aber weil sie sich gegenseitig spiegeln und vom System dafür belohnt werden, merken sie nicht, wie sehr sie gegen sich selbst leben.

Die gesellschaftlichen Veränderungen, die man als »Postmoderne« bezeichnet, haben uns seit den Siebzigerjahren allmählich jede gemeinsame Werte- und Aktionsbasis entzogen und lassen die Realität bloß als eine subjektive Interpretation und dadurch als relativ erscheinen. Seitdem sind Überzeugungen zu bloßen Meinungen degradiert worden. Wir schwimmen in einem Meer von Meinungen, ohne etwas als wesentlich zu erkennen. Handeln ist angesichts der vielen Meinungsangebote kaum noch möglich, denn wie soll der Einzelne entscheiden, was richtig und was falsch ist?

Quasi autistische Menschen, die eingeschnürt in ihrem Subjektivismus sind, leben nebeneinander her, haben es sich bequem eingerichtet, schlafwandeln durch eine Welt, deren Zustand geradezu nach gemeinsamer Aktion und Gestaltung schreit. Aber aufgrund welcher tiefempfundenen Haltung soll man noch handeln können, wenn Werte oder Ethik optional und lästig geworden sind?

Damit bedrängt man sein Gegenüber nicht, denn das würde seine – und die eigene – grenzenlose Freiheit nur stören, die ihm für seine Passivität und Komplizenschaft versprochen wird. Ein solch isoliertes Wesen aber ist der ideale Konsument, er fügt sich ebenso ideal in die Rädchen des Systems ein. Er wird die Belohnungen, die er für sein konformes Verhalten erhält, für das richtige Leben halten.

Die neuen Fetische Digitalisierung und Virtualisierung machen die letzten Reste des konkreten Lebens zu flüchtigen Abstraktionen. Sie dringen bis in die letzten Winkel der Privatheit und der Persönlichkeit ein und verwandeln alles, was sie dort vorfinden, in … nichts.

Das große Nichts auf dem Bildschirm erscheint uns als ein würdiger Stellvertreter unseres Selbst, das wir hegen und pflegen, um dessen »Image« wir uns sorgen, das wir aktualisieren, optimieren und präparieren. Wir kümmern uns darum mehr als um konkrete Menschen. Wir glauben, dass wir sind, wenn wir eigentlich nicht sind. Dass wir handeln, wenn wir nur virtuelle Symbole bedienen. Dass wir Freundschaft leben und in Gemeinschaft sind, wenn wir eigentlich isoliert und in unseren Einbildungen sind.

Im Netz werden wir erst recht zu einer abstrakten Ware und bieten uns als solche an. Dabei gilt eigentlich nach wie vor das Prinzip, das Max Wertheimer so formulierte: Das Ganze – in diesem Fall: der Mensch – ist mehr als die Summe seiner Teile. Der Mensch hat eine Würde und unmittelbare Präsenz, die weder durch die Leitideen des Kapitalismus noch durch jene der Postmoderne und der Virtualität zu erfassen sind, geschweige denn, gefördert werden.

So leben wir ein passiveres und ärmeres Leben, als es nötig wäre, um einen reichen Lebensweg voller Sinn zu haben. Kapitalismus, Postmoderne und Virtualität ergänzen und verstärken einander in idealer Weise und umschließen uns von allen Seiten.

Seit den Sechzigerjahren haben die humanistische Psychologie und seit den Siebzigerjahren die humanistische Pädagogik versucht, ein anderes Menschenbild in der Gesellschaft zu etablieren. Sie gehen vom ganzheitlichen Bild eines Menschen aus, der seine Gedanken, Überzeugungen, Gefühle und seinen Körper miteinander verbindet, der gegenwärtig und immer bezogen ist.

So gewinnt das Individuum eine Klarheit und Konkretheit, die ihm sonst abhanden zu kommen drohen. Ein solcher Mensch ist – trotz aller Offenheit und Sprunghaftigkeit menschlichen Verhaltens – weniger manipulierbar, weil er seine wirklichen Interessen und Gefühle kennt; weil er weiß, was er braucht und was nicht.

Man kann leider nicht behaupten, dass die humanistischen Denkrichtungen und ihre Auffassungen der Existenz in den letzten Jahrzehnten erfolgreich waren. Bis auf einige Schulen, die sich »ganzheitlich« oder »frei« nennen und versuchen, ein »holistisches« Wissen im Lernprozess erfahrbar zu machen, und bis auf die humanistischen Therapieangebote herrschen mehr denn je Umstände, die unser Leben aushöhlen und uns uns selbst entfremden. Der Zeitgeist drängt uns mit aller Macht in eine andere Richtung.

Gegen Ende ihres Buchs »Das Café der Existentialisten« verortet Sarah Bakewell das aktuelle Dilemma der Freiheit. Sie schreibt: »Freiheit ist (…) das große Rätsel des frühen 21. Jahrhunderts. Ich bin in der naiven Annahme aufgewachsen, dass dieses nebulöse Ding namens Freiheit im Verlauf meines Lebens stetig größer werden würde, sowohl in meinem persönlichen Umfeld als auch im politischen Bereich. In mancher Hinsicht ist es tatsächlich so gekommen, in anderer Hinsicht ist das Konzept der Freiheit so radikal unter Beschuss geraten, dass wir heute keinen Konsens mehr in der Frage erzielen können, wie wir Freiheit genau definieren, wie wir sie finden, wo ihre Grenzen liegen und wie viel von dieser Freiheit wir bereit sind, an ungreifbare Konzerne abzutreten, um Bequemlichkeit zu genießen. Jedenfalls können wir Freiheit heute nicht mehr als etwas Selbstverständliches betrachten.«

Aber wir sollten nicht aufhören, an die Vision eines Menschen zu glauben – und uns dafür einzusetzen –, der mehr ist als sein Gebrauchswert. Mehr als die Likes auf seinem Facebook Account. Mehr als jemand, der eine unbegrenzte Freiheit beansprucht, ohne eine gemeinsame Freiheit gestalten zu wollen. Eine Vision des Menschen, die den Ursprung und das Ziel wahrer Freiheit in der Vergemeinschaftung sieht.

Anmerkung: Ich habe den folgenden Essay in Kapitel gegliedert, deren Titel zum Teil als Imperative formuliert sind. Diese Imperative sind jenen inneren Grundsätzen und Überzeugungen nachempfunden, an die Menschen oft genug blind glauben, die aber aus Sicht der kognitiven Psychologie dysfunktional sind. Sie müssen aufgeweicht und verändert werden, damit die Menschen sich wirklich entfalten können.

Ich widme meinen Essay Heather Heyer, die 2017 in Charlottesville, Virginia, starb, als sie sich dem rechtsradikalen Mob in den Weg stellte. Sie sagte: »Wenn du nicht empört bist, schaust du nicht genau hin.«

Du sollst mir deine Aufmerksamkeit schenken, auf dass ich damit Geschäfte mache.

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Hier kann man einen gewöhnlichen, unverdächtigen Zettel sehen, wie man ihn auf jedem Schweizer Postamt ziehen muss, wenn man dort etwas erledigen möchte. Offenbar fand ein Marketingstratege, dass man sogar den schmalen Platz unter der Zahl gewinnbringend nützen und eine Botschaft anbringen müsse. Es kann einem also heutzutage in der Schweiz passieren, dass man zwar nur einen Brief abgeben wollte, sich aber auf der Straße mit einer Kreditkarte in der Hand wiederfindet.

Es ist gleichgültig, dass es zwischen dem ursprünglichen Vorhaben, der Kreditkarte und dem Urlaub, der einem versprochen wird, keine nachvollziehbare Verbindung gibt. Man hat für die Dauer der Wartezeit unsere Aufmerksamkeit gekapert. Die Zeit des Wartens wurde optimal für Geschäfte genutzt.

Ein Schweizer Postamt ist heute mehr als nur ein Ort, wo man die klassischen Postgeschäfte erledigen kann. In diesem Raum des leeren Wartens konkurrieren Papierwaren, Handys, DVDs, Kochbücher, Brieftaschen, Regenschirme oder Lotterielose um unsere Aufmerksamkeit, wir können Bankgeschäfte tätigen und auf Bildschirmen Nachrichten in einer Endlosschleife verfolgen. Wenn wir uns dort aufhalten, geraten wir durch allerhand Reize unter Beschuss. Es herrscht ein schriller Krieg, und das begehrte Gut ist unser Wahrnehmungsvermögen.

Das Schweizer Postamt ist die Neuauflage des Wanderhändlers, der von allem etwas dabeihaben muss, um sicher zu sein, dass er Gewinn macht. Es fehlt nur noch, dass in einer Ecke ein Postbeamter Pizza bäckt und in einer anderen Ecke eine Postbeamtin Unterwäsche präsentiert, vielleicht mit dem Logo: Die Post hält warm. Für nicht wenige ihrer Angestellten hält die Schweizer Post aber nicht warm, denn sie schließt eine Zweigstelle nach der anderen. Man will ihr fast raten: »Wenn es mit den Briefen nicht mehr klappt, ändere das Geschäftsmodell. Versuch es mit … Pizza.«