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Barbara Tóth

Stiefmütter

Leben mit Bonuskindern

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1. Prolog

Warum es in diesem Buch um Stiefmütter geht – aber auch um Stiefväter

2. Typische Stiefmütterrollen

Von der anfänglichen Patchworkeuphorie bis zum Satz »Du bist nicht meine Mama« und »Du bist nicht mein Sohn/mein Kind« – Stiefmütterskripts für Anfängerinnen und Fortgeschrittene

3. Die deutsche Mutter und die deutsche Stiefmutter

Warum Mutter- und Stiefmuttersein in Deutschland und Österreich anders, ja vielleicht sogar schwieriger ist als anderswo und wie sich das erklärt

4. Blut ist dicker als Wasser

Vom Annehmen von Bonuskindern und der Konkurrenz zu leiblichen Kindern, Beispiele aus der Tierwelt, soziobiologische und anthropologische Studien zu diesem Thema

5. Verhinderte Stiefmütter (und verhinderte Väter)

Wie das deutsche und das österreichische Recht ins Leben von Patchworkfamilien eingreift

6. Stiefmutterschaft im Alltag: ein Patchwork-Abc

Mit Tipps und wichtigen Schlagwörtern

7. Epilog

Ein Plädoyer für eine neue Gutmütterbewegung

Danksagung

Literatur

1.Prolog

Stiefmutter! Alleine schon das Wort weckt schaurige Assoziationen. Neidisch, missgünstig, bösartig, niederträchtig und gemein sind die Stiefmütter in den Märchen der Gebrüder Grimm. Die erste, die nach dem Tod der leiblichen Mutter mit ihren zwei Töchtern ins Haus eines reichen Mannes einzieht, lässt ihre Stieftochter Erbsen und Linsen auszählen, damit das arme Kind, Aschenputtel gerufen, es nicht rechtzeitig auf den Ball des Prinzen schafft. Die zweite, eine Königin, ist voller Eifersucht auf ihre wunderschöne Stieftochter Schneewittchen, deren Mutter bei der Geburt gestorben ist, und fragt ängstlich ihr Spieglein, ob sie eh die Schönste im ganzen Land sei. Die dritte überredet ihren Mann, einen armen Holzfäller, seine Kinder Hänsel und Gretel alleine im Wald auszusetzen und der bösen Hexe im Knusperhäuschen auszuliefern.

Ach, das sind doch nur Märchenfiguren, könnte man sagen. Sie stammen aus einer Zeit, als Frauen im Kindbett häufig starben und Witwer aus ganz pragmatischen, ökonomischen Gründen schnell eine neue Frau ins Haus holen mussten. Aber die Bilder, die diese Erzählungen bis heute in uns wecken, sitzen tief in unserem kollektiven Gedächtnis und lassen uns bis heute Mütterrollen festgefahrener erleben als in anders geprägten Kulturen, etwa in Frankreich. In der analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs ist die Stiefmutter beispielsweise eine von mehreren Varianten des Mutter-Archetyps.

Ambivalente Mutter-Gottheiten gibt es in vielen Kulturen. Die Römer kannten die Parzen, die nordische Mythologie die Nornen, die alten Griechen die Moiren. Sie treten als Schicksalsgöttinnen auf, die beschützend und verschlingend zugleich sein können. In der ursprünglichen Version von Hänsel und Gretel war es noch die leibliche Mutter, die den Vater überredete, die Kinder in den Wald zu schicken. Später wurde sie durch die gemeine Stiefmutter ersetzt. Speziell in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte hielt sich sehr lange das durch und durch gute, überhöhte Mutterbild und als seine Kehrseite die böse Stiefmutter als Fremde, Tyrannin, Familieneindringling, die ihr Wohl vor das der nicht leiblichen Kinder stellt und ihnen den Vater entfremdet.

Stiefmütter haben, um es neumodisch zu formulieren, ein echtes Imageproblem. Ihr Ruf ist historisch belastet, immer noch miserabel und spiegelt nicht einmal in Ansätzen wider, was sie mittlerweile gesellschaftlich leisten. Die Stiefmutter, die an die Stelle der verstorbenen Mutter tritt, ist inzwischen selten geworden. Sie wird abgelöst von der Vollzeit-, Teilzeit-, Wochenend-, Lebensabschnitts- oder Stiefmutter fürs Leben.

Im Zeitalter der »postfamilialen Familien« ziehen immer mehr Frauen fremde Kinder groß, in den unterschiedlichsten Konstellationen, mal verbindlich, mal unverbindlich, mal auf Zeit, mal ein Leben lang.

Trotzdem gibt es über die Zahl der Stiefmütter in Deutschland und Österreich keine verlässlichen Statistiken. Aber nachdem in Deutschland wie in Österreich nahezu jede zweite Ehe (40 Prozent) geschieden wird und gut die Hälfte der geschiedenen Ehepaare minderjährige Kinder hat, lässt sich ahnen, wie breit das Phänomen Stiefmutterschaft inzwischen geworden ist. Die Statistik Österreich erhebt – anders als das deutsche Statistische Bundesamt – seit 2007 im Mikrozensus mittlerweile auch die Lebensform »Stiefkindfamilie«. Von den knapp 1,1 Millionen Familien in Österreich waren im Jahr 2017 80 400 Patchwork-familien, also gut jede zwölfte. Bei Paaren mit Kindern unter 15 Jahren ist es fast schon jede zehnte Familie. 104 000 Kinder in Österreich wachsen in Patchworkfamilien auf. Der überwiegende Teil der Kinder bleibt in der Mamafamilie leben (fast 90 Prozent), nur zehn Prozent ziehen in die Papafamilie. Somit ist die Stiefvaterfamilie am häufigsten (48,7 Prozent), in der die leibliche Mutter und ein Stiefvater ohne gemeinsame Kinder zusammenleben. An zweiter Stelle steht mit 43,4 Prozent aber schon die »komplexe Stieffamilie«, bei der ein Partner ein Kind in die Familie mitbringt und ein gemeinsames Kind dazukommt. Während Scheidungszahlen gut dokumentiert sind, ist nach wie vor unbekannt, wie viele nicht verheiratete Paare ihre Partnerschaft jährlich beenden und wie viele Kinder von einer solchen Trennung betroffen sind. Studien aus dem deutschsprachigen Raum zeigen, dass nicht eheliche Paarbeziehungen ein höheres Trennungsrisiko aufweisen als Ehen. Die Zahl von Kindern, die in einer doppelt komplexen Stieffamilie aufwachsen, also vielleicht schon ihre zweite Stiefmutter oder den zweiten Stiefvater erleben, wächst mit Sicherheit.

Kein Wunder, dass sich Stiefmütter in so vielfältigen, bunten, zusammengewürfelten Familien nicht mehr »Stiefmutter« rufen lassen wollen. Das klingt nach gestern und alles andere als schmeichelhaft. »Stiefmutter« ist im Deutschen ein eindeutig negativ besetzter Begriff. Das Wort findet sich seit dem 8. Jahrhundert im Mittelhochdeutschen (»stiefmuoter«) und Althochdeutschen (»stiofmuoter«) und das »stief« bedeutet ursprünglich »beraubt«. Das mit Stiefmutter verwandte germanische Wort »Astypte« steht für »verwaist«, »steupa« heißt »abgestutzt«, »abgestumpft« oder »beraubt«. Im 17. Jahrhundert wird das Adjektiv »stiefmütterlich« schon mit den heutigen Bedeutungen assoziiert: hart, ungerecht, vernachlässigend, zurücksetzend. Der Duden kennt auch noch die Synonyme abweisend, barsch, eisig, frostig, gefühllos, herzlos, kühl, lieblos, ohne Liebe / Wärme, unfreundlich, unliebenswürdig; (abwertend) grob, rüde, achtlos, gleichgültig, nachlässig, nicht gewissenhaft / gründlich / sorgfältig, schlecht; (umgangssprachlich abwertend) schludrig.

»Stepmother« im Englischen hört sich auch nicht viel sympathischer an. Das italienische »matrigna« klingt da schon um einiges netter, auch wenn die Endung »-igna« einen abwertenden Ton hat. Im Tschechischen gibt es mit »macecha« ebenfalls ein eigenes leicht pejoratives Substantiv.

Wie viel freundlicher klingt da das gebräuchlichste französische Wort für Stiefmutter, die »belle-mère«. Das Interessante an »la belle-mère« ist, dass der Begriff sowohl Stiefmutter als auch Schwiegermutter bedeuten kann; um Klarheit herzustellen, müsste man also präzisieren, ob es um die (zweite) Frau des Vaters, die Mutter des Ehemanns oder der Ehefrau geht. Die eigene Mutter nennt man im Französischen »maman«, man kann sie aber auch »belle-maman« nennen, was eine besondere Vertrautheit und Wertschätzung signalisieren kann, aber nicht muss. Ursprünglich war das vorangesetzte »belle« oder »beaux« ein Zeichen besonderer Höflichkeit und stammt aus dem Mittelalter. Für die böse, niederträchtige, gemeine Stiefmutter, wie wir sie aus Grimms Märchen kennen, gibt es im Französischen einen ganz eigenen, wenn auch veralteten Begriff. Sie wird »marâtre« genannt.

»Bist du jetzt meine Stiefmutter?«, diese Frage kennen Stiefmütter nur allzu gut. Sie kommt verlässlich nach der ersten Phase des Kennenlernens, wenn ihr Stiefkind versucht, eine Zuschreibung für die Neue an der Seite seines oder ihres Papas zu finden. Oft bleibt es dann bei »Papas Freundin«, weil sich Stiefmutter einfach verstaubt anhört oder zu ernst und andere Neologismen wie »Bonusmama« und »Zweitmama« doch ein wenig pädagogisch bemüht klingen. Außerdem ist ein Bonus etwas, das man umsonst bekommt, was schon gar nicht stimmig ist. »Beutemama« wiederum klingt vielen zu Recht martialisch, dabei schwingt im Wort – genauso wie beim »Beutekind« – eine feine Ironie mit, die einem im Patchworkalltag ohnehin nie ausgehen sollte.

Erfahrene, auf Patchworkfamilien spezialisierte Psychologinnen und Psychologen wie die Deutsche Katharina Grünewald raten in solchen im ersten Moment kniffligen Situationen übrigens dazu, die Frage erst einmal zurückzugeben und damit Raum zu schaffen, gemeinsam über das Verhältnis zueinander nachzudenken. »Wie magst du mich am liebsten nennen?« Kinder erfinden dann oft die fantasievollsten Varianten, von »Blumen-« über »Stadt-« oder »Land-« bis »Puppenmama«, je nachdem, was für sie gerade passt. Es muss ja auch nicht auf immer festgeschrieben sein. Meistens wird die Stiefmama am Ende einfach mit ihrem Vornamen angesprochen. Damit können viele Stiefmütter vermutlich am besten leben. Aber gleichzeitig spiegelt das Fehlen eines Begriffes wider, wie wenig Anerkennung unsere Gesellschaft ihrer Rolle immer noch gibt.

Man könnte auch sagen: Unsere Gesellschaft behandelt Stiefmütter stiefmütterlich. Und viele Stiefmütter behandeln in der Folge sich selbst stiefmütterlich. Was von der Außenwelt nicht wertgeschätzt wird, schätzt man selber als weniger wichtig ein. Stiefmütter treten ins Leben ihrer Stiefkinder und deren Vaters immer als die Zweite. Die Erste ist die leibliche Mutter. Sie lernen, mit dieser Kränkung umzugehen. Sie nehmen sich zurück, immer und immer wieder.

Wie viel ist seit den 1990er-Jahren nicht über das Leben in Patchworkfamilien geschrieben worden! Das war auch die Zeit, als sich »Patchwork« als moderner, durchaus mit einem gesellschaftspolitisch fortschrittlichen Ansatz verbundener Begriff für die altmodische »Stieffamilie« zu etablieren begann. Die Übersetzerin und Autorin Margaret Minker erfand ihn im Jahr 1990 für die deutsche Ausgabe von Anne Bernsteins Ratgeber »Yours, mine and ours. How families change when remarried parents have a child together«. Aus »Yours, mine and ours« wurde »Die Patchworkfamilie. Wenn Väter oder Mütter in neuen Ehen weitere Kinder bekommen«. Im Englischen ist der Begriff bis heute nicht gängig.

Darauf folgte eine publizistische Phase, in der die Patchwork-familie zum neuen Ideal erhoben wurde. Als eine Art zeitgenössische Hippie-Kommune, in der alle fröhlich und einträchtig und vor allem total entspannt miteinander leben. Hollywood entdeckte das Thema und erfand das Genre der Patchworkkomödie. Auf den Hype rund um diese als neu empfundene Lebensform folgte die Abrechnung. Bücher wie Melanie Mühls »Die Patchworklüge«, die den Alltagshorror in diesen zusammengewürfelten Großfamilien beschrieben, sie als erledigt erklärten und stattdessen die klassische Kleinfamilie wieder hochhielten. Wie immer, wenn sich gesellschaftliche Strukturen auflösen und Sicherheiten verlorengehen, boomt die Selbstvergewisserungs- und Ratgeberliteratur. Für jeden Geschmack finden sich ein Autor und ein Werk. Es gab damals und gibt bis heute reichlich Bewältigungsliteratur zum Thema, wie Kinder unter der Trennung der Eltern leiden. Dazu kamen Ratgeber, wie die Elternbeziehung zum Ex oder zur Ex wieder klappt oder aus Stiefeltern »Bonuseltern« werden. Nur für Stiefmütter, die sich auf die Suche nach Ratgebern machen, die ihre spezielle Rolle zum Thema haben, die für sie, nur für sie geschrieben sind, nicht für die Kinder und Väter, bleibt die Literatur bis heute überraschenderweise sehr überschaubar. Deswegen soll dieses Buch einen kleinen Beitrag dazu liefern, dass sich das ändert. Es will Stiefmüttern jene Wertschätzung, jene Hochachtung zurückgeben, die sie im echten Leben noch nicht haben. Es will sich ihnen und ihrer Rolle widmen, ihre Perspektive einnehmen und den Begriff Stiefmütter zum Ehrentitel machen. Das passiert nämlich viel zu selten.

In den USA wird seit den Nullerjahren am dritten Sonntag im Mai, eine Woche nach Muttertag, Stiefmuttertag gefeiert. Das freut natürlich die Grußkartenindustrie, die die kreativsten »Happy Stepmothers Day«-Billetts im Angebot hat, viele davon mit selbstironischen Sprüchen wie »not by blood but by choice« oder »not all stepmothers are wicked«. Die Geschichte, wie es zum Stiefmuttertag kam, ist rührend – und taugt, ganz amerikanisch, zur Mythenbildung. Die damals neunjährige Lizzie Capuzzi kam auf die Idee, ihrer heißgeliebten Stiefmutter Joyce Capuzzi diesen Ehrentag zu schenken, weil sie den eigentlichen Muttertag immer mit ihrer leiblichen Mutter Patti Hutton und ihrem Stiefpapa Gerhard Hutton verbrachte. Also erklärte sie den dritten Mai-Sonntag zum »Stepmom-Day« für ihre – wie sie sie nennt – »Vize-Mom«. Gemeinsam mit ihr schrieb Lizzie auch einen Brief an den republikanischen Kongress-Abgeordneten Rick Santorum, in dem sie ihm vorschlug, den Tag zum landesweiten Feiertag zu deklarieren. So weit kam es zwar nicht, aber Santorum stellte die Idee am 11. Juli 2000 dem Kongress vor und sie ist seitdem auch im offiziellen »Congressional Record« nachzulesen.

Wie immer man zu solchen Feiertagsritualen steht: Dass Stiefmütter in Deutschland und Österreich noch nicht gefeiert werden, hat auch viel damit zu tun, wie altmodisch unsere Gesellschaft die Rolle der Mutter nach wie vor sieht. Aufopfernd, gebend, zurücksteckend, selbstlos soll sie sein. Der Ruhepol der Familie, die, die alles zusammenhält, die, die das Zuhause zu einem Hort der Geborgenheit und des Schutzes vor der Außenwelt macht. Das ist das ganz traditionelle Bild. Es wurde zuletzt erweitert um das Bild der arbeitenden Mutter als »Familienmanagerin«. Die, die alles checkt. Die alle Termine des Familienkalenders im Kopf hat, Einkäufe und Handwerker organisiert, dafür sorgt, dass der Haushalt beruhigend vor sich hin brummt, und nebenbei auch das Gesellschaftsleben organisiert, zwischendurch den nächsten Urlaubsflug bucht und selbstverständlich einspringt, wenn ihrem Stiefkind etwas passiert ist, es krank wird und der Vater unabkömmlich ist.

Von Stiefmüttern wird all das erwartet, und noch mehr. Stiefmütter sollen vor allem funktionieren, ihre Probleme sind erst einmal zweitrangig. Sie ist ja die, die sich auf das Abenteuer Patchworkfamilie bewusst eingelassen hat, schwingt da oft als leiser Vorwurf mit. Du hättest ja eine eigene Familie gründen können oder bei deinem alten Mann und der Familie bleiben können. Du wolltest doch diese neue Beziehung, mit dem Neuen, der Kinder hat, jetzt zeige, dass du es im Griff hast! Und jammere bloß nicht. Bei Scheidungen stehen die Kinder im Zentrum, sie sollen den Zusammenbruch ihrer ersten Familie möglichst unbeschadet überstehen. Während Kinder nach einer ersten Orientierungsphase sich oft erstaunlich schnell an neue Umgebungen und Konstellationen anpassen und auch sehr bald mit den unterschiedlichen Grenzen und Regeln in der Papa- und Mamafamilie umgehen können, bleibt es für Stiefmütter schwierig.

Auch schwieriger als für Stiefväter, von denen leider immer noch weniger erwartet wird beziehungsweise denen gerade in Deutschland und Österreich von Staats wegen weniger zugetraut wird. Sie sind es, denen nach einer Scheidung die Kinder leider nur für zwei Wochenenden im Monat zugesprochen werden und die damit zu Wochenend-Entertainment-Papis werden. Und deren neue Partnerinnen damit automatisch zu Rivalinnen um diese wenigen wertvollen Papastunden. Meistens sind sie es, die Vollzeit arbeiten und weniger Haus- und Familienarbeit übernehmen – und damit auch nicht mit der Herausforderung konfrontiert werden, ihren Alltag mit noch fremden Kindern zu bestreiten. Es sind die Stiefmütter, die diese neuen Mix-Familien zusammenhalten sollen, und in der Praxis tun sie das dann auch meistens mit viel selbstlosem Einsatz – oft zu selbstlos, wie es in diesem Buch noch öfter Thema sein wird.

Sie meistern dabei viel mehr Herausforderungen als Mütter in klassischen Familien. Sie werden oft ohne Aufwärmphase in ihre neuen Rollen geworfen. Sie sind die Partnerin ihres neuen Mannes, also gleichzeitig in einer noch frischen, lebendigen Liebespaarbeziehung, und mit einem Mal auch in einer Familienbeziehung. Sie sollen zu den Kindern ihres Partners eine tragfähige Beziehung aufbauen, was meistens impliziert, auch einen Weg zu dessen Ex zu finden und ihren Einfluss zu tolerieren. Hat die Stiefmutter eigene Kinder, wird sie dafür sorgen, dass auch deren Verhältnis zum Stiefvater und den Stiefgeschwistern klappt und auch ihr Ex, der Vater ihrer eigenen Kinder, seinen Platz in dieser komplexen Familienaufstellung findet. Oft kommen dann auch noch die Interessen und Wünsche der eigenen Eltern, Ex-Schwiegereltern und Neo-Stiefeltern dazu. Gab es in der Generation der Eltern bereits eine Trennung oder hat die Stiefmutter selbst oder ihr Partner schon mehr als eine Trennung hinter sich, wächst sich das ohnehin schon aufwendige Patchworken zur regelrechten Sippenpflege aus. Wie oft wurde das Ende der Großfamilie beklagt, in modernen Patchworkmustern lebt sie auf eine andere Art neu auf.

Daneben ist die Stiefmutter natürlich auch meistens berufstätig, denn sich selbst erhalten zu können ist für sie selbstverständlich. Sie ist ein Geschöpf der Post-Versorgungsehen-Ära. Die Vorstellung, einen Mann fürs Leben zu finden, der als Alleinverdiener die Familie versorgt, ist ihr fremd. Sei es aus grundsätzlichem, feministischem Prinzip oder eigener Erfahrung. Kaum jemand macht den Fehler ein zweites Mal, sich ganz auf seine Liebe zu verlassen, dafür alles, auch den Job, aufzugeben und bei einer Trennung dann auch noch beruflich ganz von vorn anfangen zu müssen. Damit hat die Stiefmutter von heute die Prinzipien der neoliberalen Wirtschaftsordnung internalisiert. Sie ist eigenständig, übernimmt Selbstverantwortung und sorgt sich um ihren Marktwert. Einerseits. Andererseits ist sie sehr solidarisch, ist sie doch bereit, Verantwortung für ihre neue Familie zu übernehmen und für sie zu sorgen und sich um sie zu kümmern.

Moderne Stiefmütter sind all das, aber eines ganz gewiss nicht: Frauen, die sich wie in den Märchen der Gebrüder Grimm in ein gemachtes Nest setzen und alle mit ihren Launen tyrannisieren. Sie brauchen sehr viel Feingefühl, ein hohes Maß an sozialer Kompetenz, pädagogisches Geschick und Geduld, um im Gefühle- und Beziehungsdickicht einer Patchworkfamilie zurechtzukommen. »Normale« Familien sind schon jede ein Universum für sich, wie ist es erst, wenn mehrere unterschiedliche Familien-universen und -kulturen aufeinandertreffen und einen Kompromiss finden müssen.

Meistens fällt der Stiefmutter dann auch noch die undankbare Rolle der Infragestellerin und Aufbrecherin herkömmlicher Regeln, Routinen und Rituale zu. Sie ist ja die, die neu dazugekommen ist, die nicht alles als selbstverständlich und gegeben hinnehmen muss, die ihre eigenen Familienerfahrungen, sei es als Mutter ihrer eigenen Kinder oder, wenn sie kinderlos ist, als Tochter ihrer Herkunftsfamilie mitbringt und mit den herrschenden Abläufen abgleicht. Das beginnt bei Banalitäten wie: Müssen die Kinder an ihren Papatagen wirklich nicht warten, bis alle aufgegessen haben? Ist es o. k., wenn sie die Schuhe im Vorzimmer einfach stehen lassen, wo sie ausgezogen wurden? Warum sitze an den Wochenenden nicht ich, sondern das Stiefkind am Beifahrersitz? Und wird bald einmal grundsätzlich, spätestens dann, wenn der berühmte Satz fällt: »Du bist nicht meine Mutter und hast mir gar nichts zu sagen.«

Bei all diesen Herausforderungen übersehen Stiefmütter oft, auf sich zu schauen. Ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche, ihre Rolle zu definieren und einzufordern. Ihr Selbst zu pflegen. Sich nicht zu vergessen. Sie nehmen viel auf sich und hinterfragen sich meistens erst dann, wenn es ihnen schon schlecht geht. Oft ist es dann bereits zu spät. Etwa die Hälfte der Patchworkbeziehungen fällt wieder auseinander. Das ist etwas mehr als in klassischen Familien und gibt eine Vorahnung, wie herausfordernd die Rolle der Stiefmutter ist. Es macht einen Unterschied, ob eine Frau ihre Mutterrolle organisch in einer Kernfamilie aufbauen kann, quasi mit den Kindern mitwächst, oder quer einsteigt und dann auch noch ihre Rolle sehr bewusst ausverhandeln und gestalten muss.

Aber was eine Bürde ist, ist auch immer eine Chance. Weil Stiefmütter bewusst Elternaufgaben übernehmen, reflektieren sie mehr darüber. Sie sind weniger gefährdet, sich ganz in der Mutterrolle aufzugeben. Schließlich wollen sie ihr altes Leben nicht verlieren, als berufstätige Frau, als Partnerin und Geliebte, als Freundin. Im Idealfall erhalten sie sich eine gesunde Distanz zu den vielen Ansprüchen, die an sie in ihrer Stiefmutterrolle gestellt werden. Davon können alle anderen Familienmitglieder lernen. Zuallererst die Stiefkinder, die sich ja meistens ohnehin keine Ersatzmama wünschen, sondern einfach einen Menschen, der für sie da ist und auf den sie sich verlassen können. Und natürlich der Partner, der nach dem Scheitern seiner ersten Beziehung meistens ebenfalls von einer neuen, modernen Partnerschaft auf Augenhöhe träumt. Der natürliche Abstand, den eine Stiefmutter in eine Familie mit einbringt, bedeutet immer auch ein Stückchen Freiheit, Rollen zu hinterfragen und neu zu definieren.