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Klaus Siblewski

Der
Gelegenheitskritiker

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

»Das Lesen und Schreiben an sich
hatte ihn in Beschlag genommen.«
K
.

Inhalt

1. Der Umzug

2. Grass zieht immer, Walser auch!

3. Die Jungen mögen die Alten nicht!

4. Die Agentin

5. Könnten sie ein paar Sätze miteinander sprechen?

6. Der Torso

1. Der Umzug

Kein Tag war in den letzten Jahren vergangen, an dem er sich nicht an einen anderen Ort gewünscht hätte. Er sah sich mit seinem Schreibtisch in einer Wohnung in den Bergen oder am Meer sitzen. Der Schreibtisch stand vor einem Fenster, und er saß an dem Schreibtisch und war in Gedanken. Diese Szenerie war in milchiges Licht getaucht, Genaueres ließ sich nicht erkennen (wo waren die Berge, wo das Meer?). Er wusste auch nicht genau, was er an diesem fernen Schreibtisch arbeitete – diese Arbeit ging ihm aber flüssig von der Hand, dafür hatte er ein vages, sich aber immer wieder einstellendes Gefühl. Diese Schreibtisch-Halluzination dauerte nur wenige Momente. Für eine kurze Zeit ging es ihm danach besser.

Wenn er darüber nachdachte, wann er sich mit seinem Schreibtisch in eine andere Weltgegend träumte, dann stellte sich diese Phantasie immer unterwegs ein. In der weitläufigfinsteren Zwischenwelt am Stuttgarter Bahnhof zum Beispiel, oder auf dem Weg zur neuen Bibliothek (ein Monstrum), oder von der neuen Bibliothek zurück zu seiner Wohnung sah er sich häufig weit weg von Stuttgart arbeiten. Oder in der Sauna. Dort ging er gerne hin, wollte entspannen, sobald er aber ins Schwitzen geriet und sein Puls sich beschleunigte, sah er sich an einem Schreibtisch weit weg von seiner Stuttgarter Wohnung sitzen. Oder wenn er, was ausgesprochen selten vorkam, eine kleine Wanderung die Schwäbische Alb hinauf machte: Kaum wurde der Weg etwas steiler und ging sein Atem etwas lauter, dachte er sich an einen Schreibtisch an einen anderen Ort als die Schwäbische Alb. Nur wenn er an seinem Schreibtisch saß (das war die meiste Zeit der Fall), sah er sich mit seinem Schreibtisch nie woanders. Was das bedeutete, hatte er keine Ahnung und verspürte aber auch keinen Antrieb, das in Erfahrung zu bringen. Auch auf die Idee, umzuziehen und seinen Schreibtisch tatsächlich in einer Wohnung am Meer oder in den Bergen aufzustellen, wäre er zuallerletzt gekommen. Ihn beschäftigten andere Themen.

Bald aber war es dann doch so weit. Er würde mit seinem Schreibtisch an einen anderen Ort ziehen und ihn dort aufstellen. Er würde von Stuttgart nach Leipzig umziehen, seinem Schreibtisch in einer Wohnung in Leipzig einen anderen Platz geben und an diesem Ort seine Arbeit fortsetzen. Wie eine Erfüllung seiner Träumereien kam ihm dieser Umzug nicht vor, er konnte aber auch nicht sagen, dieser Umzug habe mit seinen Träumereien nichts zu tun. Er war gespannt, was in Leipzig geschehen würde, und er hatte sich vorgenommen, viel Sorgfalt auf die Suche nach einem guten Platz für seinen Schreibtisch zu verwenden.

Vor wenigen Wochen hätte er noch jeden erstaunt angesehen, der ihn gefragt hätte, ob er demnächst von Stuttgart wegziehe (hier ist er sogar aufgewachsen, in Degerloch). Er hätte entschieden den Kopf geschüttelt und die Gegenfrage gestellt, weswegen er aus Stuttgart wegziehen sollte (es gab für ihn tatsächlich keinen einzigen Grund). Und dass Leipzig die Stadt sein würde, in die er zöge, lag ebenfalls außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Weit außerhalb seines Vorstellungsvermögens hätte er gesagt, wäre er gefragt worden.

Stuttgart aber gehörte der Vergangenheit an (er konnte bald von der Stuttgart-Phase in seinem Leben sprechen). Jetzt stand er zwischen dem Umzugsgut in seiner neuen Wohnung in Leipzig und überlegte, wie er weiter vorgehen wolle, damit er so bald als möglich die Arbeit an seinem Schreibtisch wieder aufnehmen konnte. Viel Zeit durfte er sich zum Ankommen in der neuen Wohnung nicht nehmen, er musste Geld verdienen. Außerdem würde er sich bald ausgehöhlt und blöde vorkommen, wenn er sich nicht mit Büchern beschäftigen und an seinem Schreibtisch sitzen konnte. Im Nichtstun lag eine unbenennbare und nicht zu zähmende Gefahr. Bis er sich aber wieder an seinen Schreibtisch setzen und mit seiner Arbeit beginnen und sie fortsetzen konnte, musste noch einiges geschehen.

Sein Vorgänger hatte die Wohnung in eine bunte Höhle verwandelt. Die Wände waren dunkelrot und dunkelblau gestrichen. In der Küche hatte er die Farbe Kanariengelb eingesetzt, von der Fußleiste an aufwärts bis zur Decke und über die gesamte Decke hinweg. Garniert hatte er das Gelb mit lila Tulpen, die aus dunkelgrünen Schäften herausragten, und bei der Verteilung der Blumenmotive auf den Wänden und an der Decke peinlich darauf geachtet, jeden Eindruck einer Symmetrie zu vermeiden. Er hatte kurz überlegt, ob er die Wohnung unrenoviert lassen und, ebenfalls eine Neuerung, sein Leben in starken Farben weiterführen sollte. Aber selbst bei Sonnenschein musste er starke Glühbirnen einsetzen, sonst war vor allem sein Arbeitszimmer (dunkelblau, wohin er blickte) nicht hell zu bekommen. Wenn er ein Buch ohne den Einsatz von Elektrizität lesen wollte, dann musste er sich ans Fenster stellen und die aufgeschlagenen Seiten schräg Richtung Hinterhof neigen. Und ebenso kurz hatte er überlegt, was geschähe, wenn er das Gelb der Küche beibehielte. Er stellte sich mit einer Tasse frisch zubereitetem Kaffee in die Mitte des Raumes und beobachtete, was mit ihm geschah. Dieses Gelb saugte jeden halbwegs brauchbaren Gedanken aus seinem Hirn (und auf die Dauer auch den Kaffee aus seiner Tasse). Gestrichen musste die neue Wohnung werden, bis in die entferntesten Winkel (die Toilette war bisher in sattestem Schwarz gehalten).

Im nächsten Baumarkt kaufte er das grellste Weiß, das er unter den Weiß-Varianten der Wandanstriche finden konnte. Nach dem dritten Anstrich bei den dunkelroten und dem vierten bei den dunkelblau (schwarz) angelegten Wänden war es ihm gelungen, dem Weiß zu erkennbarem Durchbruch zu verhelfen (nur an den Fußleisten konnte man noch an einigen Stellen sehen, in welchen Farben die Wände zuvor gehalten gewesen waren – aber das störte ihn nicht). Er ließ sich nach seinem unermüdlichen Streichen auf einen orientierungslos im Raum stehenden Sessel nieder, betrachtete die Wände und feierte sich.

Er hätte es nicht vermutet, aber mit Farbe zu arbeiten lag ihm. Die Farbe an den Wänden hielt, damit hatte er nicht unbedingt gerechnet. Außerdem hatte das frische Weiß der Wände die Wohnung regelrecht geweckt und aus ihrem Dämmer gerissen. Darüber freute er sich. Und noch mehr freute er sich darüber, dass er hier in seinem Sessel zum ersten Mal daran denken konnte, dass der Umzug einmal vorbei sein würde und er mit der Arbeit wieder beginnen könnte. Das verbesserte seine Stimmung nochmals.

An seine Arbeit konnte er aber zunächst nur denken. Es fehlten vor allem Bücherregale. Sie mussten beschafft werden. Er hatte einmal eine Theorie entwickelt, Bücherregale stellten die transzendentale Dimension und Fortentwicklung der Arbeit am Schreibtisch dar. Der Schreibtisch war der Ort des Realen, das Bücherregal fasste das Mögliche, geronnen zur Form des Buchs. Diese Theorie hatte er wie so viele seiner Ideen und Einfälle nicht in einem Aufsatz ausformuliert: Jetzt musste er dem Möglichen eine reale Gestalt geben. Er lachte kurz auf über diese Unsinnsformulierung, sie belebte ihn. Vor die weißen Wände mussten Bücherregale montiert werden, logischerweise und in klarer Konsequenz seiner Malerarbeiten: auch in Weiß.

Die Bücherregale in Stuttgart hatten ein Einsehen. Sie verloren ihren Halt, als er sie von den Büchern befreite, und fielen in sich zusammen. Den ungeordneten Haufen Holz konnte er nur noch dem Sperrmüll übergeben.

Gerne hätte er eine Idee weiterverfolgt, die ihm gerade in den Sinn kam und die besagte – Bücher trügen sich selber. Diese Idee erlaubte keinen anderen Schluss, als dass Bücher nicht einmal die klapprigen Stuttgarter Gestelle zu ihrem Halt benötigten, sondern ausschließlich andere Bücher. Daraus konnte er wiederum den Schluss ziehen, dass er sich von Bücherregalen emanzipieren könne und keine in seiner frisch gestrichenen Leipziger Wohnung aufstellen müsse … Leider war das nur eine haltlose Theorie.

Vielleicht musste er seinen Büchern auch nur Holz anbieten, und die Bücher in Verbindung mit Holz würden regeln, was zu regeln war, damit sie geordnet an den Wänden stünden … Aber auch diese Überlegung, sagte er sich, sollte er besser nicht weiter verfolgen oder erproben, inwieweit sie als zutreffend bezeichnet werden könnte. Wenn er sich endlich zum ernsthaften Nachdenken entschloss, dann war die nächste Frage, die er entscheiden musste: kaufen oder bauen. Sollte er Bücherregale kaufen oder sie selber bauen? Die Antwort auf diese Frage war schnell gefallen: bauen. Sein Kontostand schloss andere Alternativen aus, aber auch seine gut gepflegte studentische Mentalität. Bücherregale baute man sich selber.

Diese Entscheidung hatte zur Konsequenz: Er musste wieder zum Heimwerkermarkt fahren und sich dort mit den erforderlichen Materialien eindecken.

Zuvor aber war Maß zu nehmen. Dazu musste er seinen Sessel verlassen, aufstehen und sich einen kleinen Zettel plus Stift besorgen. (Die Entwicklungsgeschichte der Technik aus der Perspektive der Erfindung des Notizzettels neu zu schreiben, wäre sicher wieder eines seiner bahnbrechenden, leider unrealisiert bleibenden Projekte.) Er hatte Maß zu nehmen, auf dem Zettel die Längen, Höhen und Breiten seiner Bretter zu notieren. Dann musste er sich überlegen, wie viele Dübel, Winkel und Schrauben (und welche Sorten und Größen) er benötigte. Auch das musste notiert werden.

Am nächsten Morgen fuhr er mit diesem Zettel in der Tasche los. Hin mit der Straßenbahn, zurück mit einem Wagen. An den Transport von Holz und Baumaterialien hatte er nicht gedacht. Zum Glück stand vor dem Heimwerkermarkt ein kleiner Pavillon. Dort war ein kleines Büro einer Autovermietungsgesellschaft untergebracht und dort mietete er sich auch ein Auto, damit er seinen Einkauf zurück in die Wohnung transportieren konnte.

Und wie verheißungsvoll waren seine Aussichten. Zum ersten Mal in seinem Leben könnte er alle seine Bücher in Regalen unterbringen. Als Student und danach hatte er Bücher immer nur aufeinandergetürmt, wo er Platz fand. Die Wände hier in der Leipziger Wohnung hatten eine sagenhafte Höhe von 3,30 Meter und alleine im Flur gab es eine Wand in der Länge von 2,60 Meter. Für ihn und die Verhältnisse, aus denen er kam: unendliche Stapelflächen für Bücher.

In seiner letzten (und bisher einzigen) Stuttgarter Wohnung war das Fassungsvermögen für Bücher bald nach Einzug erschöpft gewesen, und er musste sich andere Schichtungsmodelle überlegen.Vor den Regalen ließen sich Bücher ablegen und aufeinandertürmen. In der ersten Zeit achtete er noch auf die Anfangsbuchstaben der Namen der Autoren. Er wollte sich an die alphabetische Reihung der Bücher nach den Familiennamen der Autoren in den Regalen halten und stellte die neuen Bücher ungefähr in die Zonen der Anfangsbuchstaben ihrer Autoren. Später gaben die Formate der Bücher den Ausschlag, für sie musste ein Platz gefunden werden, wo sich einer bot. Und noch später verwandelte er die gesamte Wohnung in ein Bücherlager. In der Küche schraubte er Bretter an die Wände. Krimis und Bücher mit erkennbarem Spannungselement, dachte er, wären dort gut aufgehoben. Während er eine Minestrone kochte, könnte er Krimis lesen, aber erstens las er keine Krimis (warf sie auch nicht weg), zweitens hatte er in der Küche nie die Muße zum Lesen von Büchern gleichgültig welcher Sorte (selbst Kochbücher betrachtete er dort nur von außen, blätterte aber nie in die Bände hinein) und drittens waren bald keine Krimis mehr in der Küche zu finden, selbst wenn er welche gesucht hätte, weil auch Romane und Sachbücher in die Küche wanderten. Selbst unter sein Bett hatte er kleine Büchertürme geschoben. Sie verliehen dem Bett Stabilität, aus welchen Büchern diese Stapel aber bestanden, wusste er nicht (mehr) und hoffte, dass ihn nie jemand danach fragen würde. Diese Frage zu stellen, untersagte er auch sich selber.

Eine Woche war mit Messen, Sägen, Dübeln, Schrauben vergangen. Ein letztes Mal musste er beim Bau der Regale den Kopf über sich schütteln. Er betrachtete die Schrauben in seinen Händen, mit denen er Seitenträger in den Wänden befestigen wollte. Länge und Dicke der Schrauben waren von Ausmaßen, mit denen er das Mauerwerk sprengen und spielend in die nächste Wohnung gelangen konnte. Er ging durch die Wohnung und schaute, welche Wände an eine Nachbarwohnung angrenzten, und kam auf zwei. Er überlegte kurz. Wenn er seinen Regalen mit passenderen Schrauben Halt geben wollte, dann hätte er nochmals in den Heimwerkermarkt fahren müssen. In seinem Leben würde er aber nie mehr einen derartigen Markt besuchen, das hatte er sich geschworen. (Neues Projekt: Säge und Buch. Wie das Talent für Praktisches die Lesefähigkeit zerstört.) Diesen Schwur hielt er aufrecht. Er würde es mit seinen Schrauben riskieren. Außerdem war bei nur zwei Wänden die Gefahr nicht so groß, dass die Nachbarn von den Durchbrüchen (falls es dazu kam) etwas bemerkten und protestierten. Auf Kleinigkeiten dieser Art wollte er ohnehin keine Rücksicht mehr nehmen.

Nachdem keine Schrauben mehr vor ihm lagen, jubelte er. Die Nachbarn (taubstumm, tot, beide auf dem Weg nach Stuttgart?) verhielten sich auffällig still. Jetzt war ein kleines Fest angesagt. Champagner (zu teuer, leider), Sekt? Sekt sollte es sein. Er zog sich seine Jacke an, stürmte die Treppen hinunter (bisher war ihm nicht aufgefallen, dass dort ein schöner, kaum abgetretener Sisalläufer lag), rannte durch den Treppenflur hinaus auf die Straße, blieb dort abrupt stehen. Er musste kurz überlegen, wo gab es hier Sekt zu kaufen? In einem Supermarkt (Weinhandlungen waren zu teuer). Wo ein Supermarkt seine Pforten fünfzehn Stunden täglich geöffnet hielt, wusste er: erst nach rechts, dann wieder rechts, an der nächsten Kreuzung die Karl-Liebknecht-Straße (an die Straßennamen musste er sich erst gewöhnen) nach links (glücklicherweise nicht in Richtung Baumärkte). In dem Supermarkt musste er erst durch eine kleine Schleuse mit Blumen rechts und links, dann an den Kassen vorbei nach links und schon stand er in der ihm liebsten Abteilung des Supermarkts: Flaschen jedweder Größe und gefüllt mit gelegentlich sogar wohlschmeckenden Inhalten (aber darauf kam es nicht an) standen ordentlich aufgereiht vor ihm.

Das Fest war kurz. Er stürzte das erste Glas Sekt hinunter. Er liebte dieses erste Glas, lauwarm, kalt – das machte keinen entscheidenden Unterschied. Jedes weitere Glas schmeckte abgestandener und fader als das davor. Immerhin hatte er den Umzug von Stuttgart nach Leipzig geschafft. Er hatte sich und sein Leben vom Südwesten Deutschlands in den Nordosten transferiert, und diese Überführung war geglückt. Wann, wenn nicht jetzt, durfte er sich eine etwas ausgelassenere Stimmung erlauben?

Aus der Wohnung in Stuttgart wäre er nie ausgezogen, warum auch. Er besaß zwei Räume zum Leben (ein Bekannter, er schrieb seit dem Ende des Studiums ebenfalls Kritiken, lebte im Souterrain), eine Miniaturküche und ein Duschtoilettenbad. Angaben zu den Größenverhältnissen der Räume, insbesondere zu Küche und Bad, verboten sich (immerhin konnte er in Küche und Bad aufrecht stehen). Für ihn war diese Zweizimmerwohnung in der Stuttgarter Innenstadt ein Luxus, den er der Arbeit als Rezensent abtrotzte. Die Wohnung lag ruhig, er konnte seine Arbeit von einem Zimmer in das andere verlagern. Neu eintreffende Fahnen und Bücher las er gerne im Sessel, der im Zimmer mit seinem Bett stand. Auf den kleinen runden Tisch neben dem Sessel konnte er abends ein Glas stellen und dieses Glas mit Rotwein befüllen. Seine Lust zum Teetrinken war dann verbraucht, und ein Wechsel in den Getränkesorten dringend angezeigt. Weswegen hätte er aus dieser Wohnung ausziehen sollen? Der Bücher wegen oder weil er an seinem Schreibtisch auch bei grellstem Sonnenschein nur mit einer eingeschalteten Lampe arbeiten konnte? Diese Gründe waren für ihn keine. Sie zeugten von einem Luxusdenken, das er nicht besaß und sich mit größtem Mutwillen auch nicht zulegen konnte.

Trotzdem musste er aus der Wohnung ausziehen. In seiner Sponti-Phase zu Anfang des Studiums hätte er gesagt: Das internationale Finanzkapital hätte sich gegen ihn verschworen. Etwas nüchterner betrachtet, stellten sich die Verhältnisse ähnlich, wie er als Sponti gedacht hatte, dar. Er konnte die Miete nicht mehr bezahlen. Die Mieten der Wohnungen in Stuttgart hatten im Allgemeinen ein existenzvernichtendes Niveau erreicht (davon hörte er immer wieder), und die Miete speziell in seinem Fall mittlerweile auch. Er hatte sich, als er die letzte Mieterhöhung per Brief mitgeteilt bekam, in der Wohnung umgesehen und sich gefragt, wer auf dieser Welt auch nur ein einziges Argument für eine Mieterhöhung dieser in Sepiabraun versinkenden Hasenställe finden konnte. Ihm fiel niemand ein, außer den Vertretern des internationalen Finanzkapitals.

Danach hatte er es mit Trotz (getarnt als das Inanspruchnehmen ihm zustehender Rechte) versucht. Dieser Trotz nahm folgende Gestalt an: Er hatte gehört, er könne sich Vergleichsmieten besorgen, und mit diesen Summen zur Wohnungsbaugesellschaft gehen und von ihr fordern, die Miete wieder zu senken. Bei dieser Überlegung blieb es aber. Ihm war es ein Rätsel, wo er diese Vergleichsmieten finden sollte (im Nachbarhaus klingeln und fragen: Könnten Sie mir einmal die Höhe Ihrer Mietzahlungen sagen?, und im Anschluss daran zur Wohnungsbaugesellschaft gehen und ihr sagen, also mein Nachbar vom Haus gegenüber zahlt eine viel niedrigere Miete?) Dieses Vorgehen schien ihm wenig aussichtsreich zu sein.

Den Aufstand zu proben, dazu war er auch nicht geschaffen. Klar war nur, die Miete überschritt sein Budget.

Für kurze Zeit versuchte er dieser Einsicht auszuweichen und den Beleidigten zu geben. Er beschallte, sagte er sich ein ums andere Mal, maßgebliche Teile der Bundesrepublik Deutschland mit seinen Überlegungen zur Literatur. Ein Kenner wie er musste doch in die Lage versetzt werden (von wem?), eine aus Abstellkammern aneinandergeschichtete Zweizimmerwohnung in der Stuttgarter Innenstadt zu finanzieren. Das stand ihm zu, und wenn er auf eine Weise alimentiert wurde, dass er diese Behausung nicht bezahlen konnte, war das ein Skandal. Das musste die Wohnungsbaugesellschaft einsehen und daraus die Konsequenzen ziehen – die darin bestanden: Hier zu wohnen, war ein Verdienst (wahrscheinlich sogar ein Recht – er konnte im Augenblick den Schweregrad seiner Wohnberechtigung nicht exakt fassen), das ihm der Vermieter zugestehen musste. Alles andere war ein Beleg, wie literaturvergessen, kulturlos und mit größter Bildungsarmut geschlagen diese Gesellschaft war. Auf diese Weise konnte er sich bestens in Rage reden. Er fühlte sich dann von einem ungeheuren, jedes Gegenargument zermahlenden Gerechtigkeitsempfinden durchströmt.

Wenn er allerdings wieder etwas nüchterner wurde und vor allem, wenn er an einem Bankomaten vorbeiging und dort den Stand seines Kontos hätte abrufen können, stellte er fest: Er konnte sich noch so insbrünstig zu den Gerechtesten aller Gerechten zählen und die Vermieter Deutschlands aus der Hölle verjagen, weil sie es nicht einmal wert waren, dort ihre Sünden abzubüßen – aus seiner Wohnung musste er ausziehen.

Nach einer Veranstaltung im Stuttgarter Literaturhaus war er Zeuge des Geplauders zwischen Kollegen geworden. Im italienischen Restaurant unter dem Literaturhaus hatte einer von ihnen von Leipzig geschwärmt. Ihn hatte das erstaunt. Dieser Kollege lebte in Stuttgart genauso lange wie er. Sie waren sich sogar während des Studiums bei den Germanisten über den Weg gelaufen. In Leipzig gäbe es Altbauwohnungen von einer derart beeindruckenden Altbauwohnungshaftigkeit (Zimmergrößen, Raumhöhen, Stuckreichtum und knarrendes Parkett, wohin man schaute), Stuttgart könne da nicht mithalten. Trotz ihrer Pracht seien diese Wohnungen zu bezahlen. Eine Sandburg in Schwaben koste mehr als diese Wohnungen. Er plane dort hinzuziehen.

Seine Zuhörer (auch er) hörten in stiller Andacht zu. Dieser Kollege zog dann nicht nach Leipzig, ihn aber hatte dessen Lobgesang auf eine Idee gebracht. Vielleicht war Leipzig eine Alternative zu Stuttgart. Er kannte Leipzig nur von kurzen Aufenthalten während der Messe, das hieß, er kannte Leipzig nicht. Aber die Aussicht auf eine preiswerte Wohnung ließ ihn aufhorchen. Warum sollte er es dort nicht versuchen. Er müsste einmal hinfahren, und er fuhr nach Leipzig. Zurück in Stuttgart konnte er seinem Kollegen nur recht geben. In Leipzig gab es nicht nur bezahlbare Wohnungen, für weniger Miete, als er jetzt in Stuttgart zahlte, bekam er in Leipzig eine Dreizimmerwohnung, in der jedes Zimmer größer war als eine der muffigen Gefängniszellen, die er seit Jahren bewohnte.

Auf nach Leipzig!, sagte er sich.

Ein Zufall kam ihm zu Hilfe. Der Stuttgarter Kollege mit seiner abgeflauten Begeisterung für Leipziger Altbauten (er war an die Stuttgarter Peripherie in einen Wohnblock aus den 1950er Jahren gezogen) erzählte ihm bei einer der nächsten Nachfeiern im Literaturhaus von einem Bekannten. Dieser Bekannte sei Kurator, lebe in Leipzig, seine Freundin erwarte das dritte Kind und würde endlich in eine große Wohnung ziehen wollen. Für die alte Wohnung suche dieser Familienvater einen Nachmieter. Drei Zimmer, Küche, Bad – ob das nichts für ihn sei? Das war etwas für ihn. Er ließ sich die Telefonnummer des Kurators geben, rief bei ihm an. Der Kurator konnte nicht verstehen, weswegen er bei der Suche nach einer Wohnung in Eile wäre. Er solle für einige Monate doch erst einmal zur Probe einziehen. Das war ihm alles zu langwierig und auch zu gefährlich. Was, wenn ihm jemand diese Wohnung wegschnappte. Sie einigten sich auf den nächstmöglichen Aus- und Umzugstermin, besprachen die Modalitäten der Übernahme des Mietvertrags. Und jetzt stand er hier, vor seinen Bücherregalen, die vermutlich auch nicht durch ein Erdbeben zum Einsturz gebracht werden könnten. Allenfalls einige Böden verlören vielleicht ihren Halt. Er rüttelte ein wenig an den Seitenträgern. Fest und unverrückbar waren sie mit der Wand verbunden.

Das Einräumen der Bücher stellte sich bald als eine Herausforderung dar. Bisher dachte er, das Einräumen der Bücherregale wäre ein Kinderspiel. Dieses Räumen nahm aber Kraft (sehr viel) und Zeit (ebenfalls sehr viel) in Anspruch. Als er beim Buchstaben M angekommen war und an die vielen Autoren dachte, deren Nachname mit dem Buchstaben M begann, ließ seine Energie spürbar nach. Er setzte sich auf einen knarrenden Holzstuhl. Die praktische Welt war viel zu kompliziert organisiert (dass über das Thema Kritik der praktischen Welt. Wie das Leben gerettet werden kann? noch niemand geschrieben hatte, wunderte ihn gerade), aber leider half ihm dieser Einfall nicht weiter. Er kam auch kurz ins Nachdenken darüber, was er mit den Büchermassen wollte, die er in den vierten Stock hochgewuchtet hatte. Er lebte gerne zusammen mit Büchern, das war die simple Antwort. Dafür musste er jetzt aber schwitzen, weiter Bücher sortieren und sie auf die vorgesehenen Böden stellen.

Nach fünf Tagen waren alle Bücher eingeräumt. Das war eine Freude. In diesem Leben, davon war er überzeugt, würde es bei ihm niemals mehr so ordentlich sein. Er ging durch die Wohnung, schaute in jede Ecke: Kein Buch lag mehr herum. Das war ein großer Tag! Heute, sagte er sich, genau jetzt, würde die Leipzig-Phase in seinem Leben beginnen.

Er blieb im Flur stehen, holte tief Luft, sagte sich, diesen Augenblick müsse er sich genau einprägen, schaute dann nochmals mit erhobenem Kopf um sich und wiederholte den Satz: Jetzt würde die Leipzig-Phase in seinem Leben beginnen. Laut sprach er den Satz aus: Jetzt würde die Leipzig-Phase in seinem Leben beginnen. Dann überlegte er kurz und sagte sich, er hätte, wenn er präzise sein wollte, bereits die Vergangenheitsform verwenden müssen. Er hätte also sagen sollen: Vor wenigen Augenblicken hätte die Leipzig-Phase in seinem Leben begonnen. Jetzt lebte er bereits in seiner Leipzig-Phase und gestaltete sie. Dann bat er sich, mit diesem spitzfindigen Unfug aufzuhören.

Was war noch zu tun? Das Wichtigste stand noch aus: der Aufbau und das Einrichten des Schreibtischs. Wenn er das geschafft hatte, konnte er seine Arbeit endlich wieder aufnehmen.

Er suchte nach den einzelnen Bestandteilen des Schreibtischs, zwei Holzböcken und einer massiven Holzplatte. Die Platte hatte er beim Transport der Möbel in die neue Wohnung gleich an die hintere Wand seines Arbeitszimmers (neben die Tür) gelehnt, die beiden Böcke hatte er ins größte der drei Zimmer gestellt, einem von den zweien, die zur ruhigen Straße hinaus gingen.

Die beiden Böcke trug er ins Arbeitszimmer, stellte sie im rechten Winkel zum Heizkörper unterhalb des Fensters auf und wuchtete die Platte auf die schwankenden Holzgestelle. Wie er dieses Monstrum von Platte in den vierten Stock hochgeschleppt hatte und wie er es in Stuttgart fertiggebracht hatte, sie vom zweiten Stock nach unten zu balancieren und dort in dem Kleintransporter zu verstauen, konnte er nicht mehr nachvollziehen. Er stützte sich mit beiden Händen auf der Platte ab, atmete tief ein und presste den Inhalt seiner Lunge hinaus. Als er wieder zu Atem kam, betrachtete er die Lage der Platte. Eine Katastrophe: Die Platte hatte ein starkes Gefälle, außerdem schwankte das ganze Konstrukt. Auch wenn seine Lust zu weiterem Anheben, Keuchen und Zurücksinkenlassen der Platte auf die Böcke nach der ersten Anstrengung auf ein Minimum gesunken war, musste er sich noch einmal dazu durchringen, die Platte hochzuhieven und standfester auf den beiden Böcken zu platzieren. Bevor er sich jedoch diesen Kraftakt zumutete, korrigierte er den Stand der Böcke. Dann umgriff er die Platte an den beiden Längsseiten, hob sie an, machte zwei kleine Trippelschritte nach rechts, dann einen Trippelschritt nach links (hoffentlich beobachtete ihn niemand – wer sollte ihn eigentlich beobachten?) und ließ die Platte wieder vorsichtig auf die beiden Holzgestelle sinken. Ein prüfender Blick: Die Platte lagerte sicher und dieses Mal in perfekter Horizontale.

Dann war der Schreibtischstuhl an der Reihe. Er hatte ihn in der Küche zwischengelagert. Von dort holte er ihn, einen Kaffeehausstuhl der Marke Thonet aus gebogenem, schwarzgestrichenem Holz. Zu dem Stuhl gehörte ein Kissen, das er auf das Geflecht des Stuhles legte. Der Überzug des Kissens bestand auf der einen Seite aus rotem, auf der anderen aus blauem Seidenstoff. Jeden Morgen überlegte er sich, welche Farbe des Überzugs nach oben schauen sollte, wendete dann das Kissen hin und her, bis er sich die für den Tag richtige Farbe ausgesucht hatte, und legte es wieder zurück auf die Sitzfläche des Stuhls.

Zuerst musste er probesitzen. Er drehte die rote Seite des Kissens nach oben und setzte sich. Ein warmer Strom floss durch seinen Körper. Wie lange hatte er nicht mehr auf diesem Stuhl gesessen? Lange, kam ihm vor, viel zu lange. Eine leere Zeit lag hinter ihm. Obwohl? Leer war sie nicht gewesen. Sie war angefüllt gewesen mit allen möglichen Tätigkeiten – bis auf eine. Zum Lesen war er nicht gekommen. Vor dem Schlafen hatte er sich ein paar Zeilen hineingewürgt, rasch waren ihm die Augen zugefallen. Ein haltloser Zustand war das.

Er schaute über die Arbeitsplatte, nichts lag auf ihr. Er konnte ein Astloch betasten, das er das letzte Mal gesehen hatte, als er die Arbeitsplatte gekauft hatte. Er strich über das dunkelbraune Oval. Etwas irritierte ihn.

Wenn er seinen Empfindungen trauen konnte (weswegen sollte er an ihnen zweifeln), dann lag die Arbeitsplatte zu tief. Nicht dramatisch zu tief, aber um einige Millimeter, die darüber entschieden, ob er sich beim Sitzen an dieser Platte wohlfühlte oder ohne Pause daran denken musste, dass etwas mit ihrer Lage nicht stimmte.

Er müsste die Platte höher legen, und ihm fiel ein, was fehlte. Die Keile! In Stuttgart hatte er zu Anfang mit den gleichen Missempfindungen zu kämpfen: Die Platte hatte nicht die richtige Höhe, sie lag zu niedrig. Er hatte sich damals vier Keile zurechtgesägt und sie zwischen die Auflagefläche der Böcke und die Platte geklemmt. Das war nochmals mit Wuchten und Keuchen verbunden. Er setzte sich unter die Schreibtischplatte und stemmte sie mit Nacken und oberer Rückenpartie hoch (er senkte dazu sein Kinn streng auf seinen Brustkorb) und schob die Keile mit leicht zitternden Fingern in den sich für kurze Zeit bietenden Spalt.

Danach nahm er wieder auf seinem Thonet-Stuhl Platz. Er schaute um sich. Perfekt, dachte er. Wunderbar.

Jetzt war eigentlich seine Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt. Obwohl, nein, zwei Kisten standen noch unter dem Weichholztisch in der Küche (er hatte ihn kurz vor dem Umzug in Stuttgart gekauft) und wollten ausgepackt werden. Es waren die beiden ihm liebsten Kisten. Sie enthielten seine Schreibutensilien. Diese Dinge liebte er, und er trug die beiden Kisten vorsichtig in sein Arbeitszimmer.

Kugelschreiber, Fasermaler, Liquidliner in allen Strichstärken und Farben hatte er in Plastikhüllen verwahrt. Sie holte er als Erstes aus einer der beiden Kisten. Wenn es einmal nichts mehr zu schreiben für ihn gäbe, würde er dennoch weiter Stifte kaufen und sammeln, sie manchmal in die Hand nehmen, um Schreiben wenigstens zu simulieren. Diese glatten, runden, manchmal um viele kleine Ecken gebogenen Formen in Händen zu halten, ermutigte ihn und versorgte ihn auf geheimnisvolle Weise mit ein wenig Kraft.

Beim weiteren Auspacken stieß er auf Kalender, kleine und große, auf Hefte, außen auf dem Umschlag waren sie mit Nummern versehen – Gegenstände, die er nicht so gerne anfasste, die aber von gleicher Wichtigkeit für ihn waren. Eine Ausnahme waren vielleicht die Notizhefte. Auch sie nahm er von Zeit zu Zeit in die Hand, ohne ein Ziel zu verfolgen. Er mochte es, das Papier zu spüren, in den Seiten zu blättern, sie wieder auf die Schreibtischplatte zurückzulegen und kleine Türme mit diesen Heften zu bauen. Dadurch entstanden kostbare Hochgefühle.

Dann hätte er am liebsten in die Kiste zurückgeworfen, was er als Nächstes aus ihr herauszog. Megahässlichkeiten wie Locher, Tacker samt den unsäglichen Klammern und der Höhepunkt des Ganzen: Klebestifte. Wenn er noch Schuhcreme zutage gefördert hätte, wäre er nicht erstaunt gewesen. Schuhcreme und Klebestifte rangierten bei ihm auf demselben Sympathieniveau. Von Sympathie konnte er eigentlich nicht sprechen. Diese Gegenstände hatten es nur auf seinen Schreibtisch geschafft, weil sie einen Grad an Nützlichkeit besaßen, dem er sich trotz mangelnder Sympathie nicht verschließen konnte. Er hoffte, sie würden bald unter Papierstapeln verschwinden und unsichtbar werden.

Aus dem Wohnzimmer holte er den Laptop (an den Abenden hatte er sich semilegal Filme darauf angesehen und dabei preisgünstigen Rotwein getrunken). Er setzte sich mit dem Gerät auf seinen Thonet-Stuhl und schob den Computer an den oberen Rand des Schreibtischs. Es musste genau darauf geachtet werden, dass der Laptop mit seiner Längsseite exakt an die hintere Kante der Holzplatte anstieß und genauso exakt in der Mitte der Arbeitsplatte stand (die Seitenbegrenzungen des Geräts also gleich viel Abstand nach rechts und nach links hatten).

Für dieses Aufstellen und feine Platzieren des Geräts nahm er sich viel Zeit. Als er diese Tätigkeit mit einem befriedigenden Ergebnis abgeschlossen hatte, stand er von seinem Stuhl auf, stellte sich hinter ihn und überprüfte, ob der Stuhl ebenfalls genau in der Mitte des Schreibtischs stünde. Warum er das tat, wusste er nicht genau. Er erklärte es sich mit seinem Gefühl für Symmetrie, das ihn bei allen seinen Arbeiten begleitete und stets gewahrt werden sollte. Die Sitzposition am Schreibtisch und die Lage seines Laptops belebten dieses Gefühl und hielten es aufrecht. Ob das stimmte, hatte er keine Ahnung. Es leben die Zwänge!, hätte er am liebsten laut gerufen.

Er setzte sich wieder hin, streckte die Arme aus, der Laptop befand sich in optimaler Entfernung von ihm als Sitzendem entfernt. Dann schaltete er den Laptop ein, schaute, ob auf dem Bildschirm gut zu erkennen war, was sich dort zeigte. Das war glücklicherweise der Fall. (Ob sich bei starker Sonneneinstrahlung die Sichtverhältnisse verschlechterten, hoffte er nicht, musste es aber zunächst ungeklärt lassen.) Dann stand er wieder auf, holte die Schreibtischlampe, stellte sie links neben den Laptop, steckte den Stecker in die Steckdose, kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, knipste die Lampe an und schaute, was geschah, als die Lampe ihr müdes Sparlicht langsam zum Glühen brachte. Dieses Licht war zum Heulen, aber er kannte keinen Händler, bei dem er noch alte Glühbirnen mit ihrem belebend wachen (Luxus?-) Licht kaufen könnte. Stuttgart war stolz, sie aus den Regalen der Supermärkte vertrieben zu haben, die Leipziger teilten vermutlich diesen Stolz.

Aus der zweiten Kiste befreite er den Drucker und verbannte ihn links unten neben den Schreibtisch (befreien deshalb, weil er knapp größer als die Kiste war, in der er steckte). Dieses Plastikgehäuse mit den Spulen und Drähten rangierte auf seiner Präferenzskala noch unterhalb von Schuhcreme und Klebestiften. Auf dem Schreibtisch, also in seinem Blickfeld, hätte dieser Kasten jedes Arbeiten unterbunden. Es gab keinen anderen Platz für den Drucker als den Fußboden. Dort nahm er ihn nicht wahr, und der Drucker konnte im Verborgenen seinen finsteren Tätigkeiten nachgehen (obwohl er froh war, seine Manuskripte ausdrucken zu können).

Dann schloss er den Drucker mit einem Verbindungskabel an den Rechner an, verband beide Geräte mit dem Strom, setzte sich an den Schreibtisch (die rote Sitzfläche war und blieb für heute die beste Wahl) und testete, ob beide Geräte funktionierten und in Kontakt zueinander standen. Das war der Fall. Schließlich zog er sein Handy aus der Hosentasche, auch das war in Betrieb, und für das Ladekabel gab es noch eine jederzeit freie Steckdose. Er war mit der Technik und der Welt verbunden. Sein Leben in Leipzig konnte jetzt tatsächlich beginnen. Mit Leben meinte er Arbeiten.

Jetzt stand sein Schreibtisch, wohin er ihn so lange geträumt hatte. Er stand an einem Fenster, und wenn er aus dem Fenster schaute, sah er keine anderen Menschen (in Stuttgart waren im Gebäude gegenüber Firmen mit Angestellten untergebracht gewesen, die an allen Werktagen auf ihre hell leuchtenden Bildschirme schauten). Er sah über Dächer hinweg, sah die Spitzen von Bäumen, Wolken in wechselnden Formationen und Himmel. Was wollte er mehr. Dazu besaß er, wovon er bisher nicht einmal zu träumen gewagt hatte, ein eigenes Arbeitszimmer. Nach knapp fünfundzwanzig Jahren schwäbisch-pietistischer Enge war er in einer protestantisch-weiten Freigeistigkeit angekommen (das dachte er in diesem Augenblick wirklich). So gut war es ihm noch nie gegangen (in seiner Freude erlaubte er sich das zu denken). Und er war gespannt, welche Auswirkung die Position des Schreibtischs und dieses Zimmer insgesamt auf seine Arbeit haben würden. Jeder seiner Sätze würde die unverstellte Kraft des Ausblicks und die Exklusivität des Raumes besitzen, der ihn nun beherbergte (so stellte er es sich gerade vor). Keine Blockaden und Nebengedanken würden seine Arbeit schwächen. Auch keine Bilder (hier würde er keine aufhängen) und überhaupt nichts Ablenkendes. In diesen Raum hatte er keine Bücherregale gestellt. Das jeweilige Buch und der zu formulierende Gedanke sollten eine innige, durch nichts Störendes geschwächte Gemeinschaft eingehen können. (Auch das dachte er, hoffte aber bald auf andere Gedanken zu kommen.)

Konnte er sein Wohlbefinden noch steigern? Ja, das konnte er. Er stand von seinem Schreibtisch auf, ging in die Küche und bereitete sich dort eine Kanne Tee zu.

In der Küche setzte er Wasser auf, entschied sich für russischen Tee, schaute auf die Verpackung des Tees und stellte fest, heute war der letzte Tag, an dem dessen Haltbarkeit garantiert wurde. Morgen würde er einen Tee trinken, der verdorben sein könnte. Er überlegte kurz, was an schwarzem Tee ungenießbar werden könne, gelangte zu keinem Ergebnis (wurde das Aroma schwächer?), überbrühte den Tee und kam, nachdem er ihn drei Minuten (keine Sekunde weniger, keine Sekunde mehr) hatte ziehen lassen (gemessen wurde diese Zeit gleichzeitig mit zwei Messverfahren: einer Sanduhr und einer Uhr, bei der durch Drehen eines Zeigers die gewünschte Dauer eingestellt wurde), zurück in die Küche und goss den Tee in die zweite Kanne. Mit dieser Kanne und einer Tasse (heute einer bauchigen Tasse aus Glas) kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück, blieb in der Mitte des Raumes stehen und fühlte sich irgendwie flau. Er schaute sich um, prägte sich genau ein, wo die Möbel standen (ein Vertiko und ein Canapé, beide zu Ende des 19. Jahrhunderts gefertigt), ging wieder zu seinem Schreibtisch und setzte sich. Canapé (es hatte in Stuttgart im Keller gestanden und sich erfolgreich gegen den herabbröckelnden Verputz gewehrt) und Vertiko (in Stuttgart schon in Gebrauch) standen nicht an der richtigen Stelle.

Wohin aber mit diesen beiden Möbeln? Den kleinen Schrank an die linke Wand und das Canapé gegenüber stellen? Er probierte es aus, setzte sich wieder, ließ die Umgruppierung der Möbel auf sich wirken – mit dem gleichen Ergebnis: Er war unzufrieden. Dann hatte er das Vertiko wieder an die rechte Wand und den Zweisitzer auf die andere Seite gestellt. Das Ergebnis: keine wahrzunehmende Verbesserung, aber an diese Verteilung war er schon etwas gewöhnt. Seine Empfindungen hellten sich dadurch nur minimal auf. Irgendetwas stand an einem falschen Ort.

Jetzt war es an der Zeit, dass er seinen Betrieb wieder aufnahm.