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Gregor Mayer

Ich ewiges Kind

Das Leben des Egon Schiele

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Umschlagbild: Egon Schiele und sein Spiegelbild. Imagno / picturedesk.com

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Stephan Gruber, feintext.eu

ISBN ePub:

978 3 7017 4573 9

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3403 0

Inhalt

Fin de Siècle und kein Ende – ein Vorwort

Erstes Kapitel

Lamento aus einer Hölle

Zweites Kapitel

Das Bahnhofskind von Tulln

Drittes Kapitel

Wien! – Neukünstler!

Viertes Kapitel

Eruption

Fünftes Kapitel

Weltbild und Deutung

Sechstes Kapitel

Neustart

Siebtes Kapitel

Krieg und Tod

Achtes Kapitel

Nachleben und Wirkung

Danksagung

Literaturnachweise

Literaturverzeichnis

Editorische Vorbemerkung

Die Zitierungen aus Schieles Briefen und anderen (hand-)schriftlichen Äußerungen folgen der Schreibweise in den vorliegenden Quellen. Schiele stand mit der deutschen Grammatik und Rechtschreibung bekanntlich auf Kriegsfuß, zugleich ist sein sprachlicher Ausdruck höchst künstlerisch, lebt von plastischen Formulierungen und Wortneuschöpfungen. Die Grenzen zwischen Regelverstößen und sprachlicher Kreativität sind bei ihm oft fließend.

Fin de Siècle und kein Ende – ein Vorwort

Als ich 2013 an meinem Buch über den Sarajevo-Attentäter Gavrilo Princip schrieb, stieß ich auf ein Gedicht, das der todkranke Häftling der Österreicher nach seiner Tat an die Wand seiner kalten, lichtlosen Zelle in der Festung Theresienstadt (heute: Terezín, Tschechien) gekritzelt haben soll: »Unsere Geister werden durch Wien ziehen, durch die Hofburg wandern, die Herrschaften erschrecken.«

Mir wurde klar: Man kann nicht über Sarajevo 1914 schreiben, ohne über Wien 1914 zu schreiben. Der bosnisch-serbische Gymnasiast Princip, der die unmenschliche Festungshaft nicht überleben sollte, hatte am 28. Juni jenes Schicksalsjahres mit dem Thronfolger Franz Ferdinand den – nach dem Kaiser – höchsten Repräsentanten der Doppelmonarchie erschossen. Für ihn als Produkt der österreichischen Okkupation seiner Heimat Bosnien-Herzegowina, entflammt von sozialrevolutionärer und nationaler Romantik, bildete die Metropole der Monarchie das Epizentrum seiner Befreiungs- und Gewaltfantasien.

Das Wien vor dem Paukenschlag von 1914 evoziert jedoch heute ein ganz anderes Bild als das des »Herzens des Bösen«, der »Kommandozentrale des Völkerkerkers«. Das Wien der Jahrhundertwende kündet in der heutigen Optik von kreativer Multikulturalität, von blühenden Künsten und Wissenschaften, von ästhetischer Innovation. Von prachtvoller Ringstraßen-Architektur, vom Rausch des Jugendstils, vom Gold des Gustav Klimt, von der Seelen-Sezierung des Dr. Freud. Das »Fin-de-Siècle Vienna« ist längst schon zur Trademark für den globalen Tourismus geworden. Es hat sich neben Mozart und Donauwalzer zum effizientesten Zugpferd der Werbung für die Hauptstadt des mitteleuropäischen Kleinstaats Österreich gemausert.

Es bedarf aber keines großen Aufwands, um unter den Firnis dieses Tableaus zu blicken. Beim Gang ins Leopold Museum überwältigte mich im Vorfeld der Abfassung meines Princip-Buchs das Ölbild »Entschwebung« von Egon Schiele aus dem Jahr 1915. Ich gab mich seiner verstörenden Wirkung hin – als ob der Künstler den Schwebezustand zwischen Leben und Tod festhalten wollte. Eine Ahnung von Zeitenbruch, von Zivilisationszerfall vermeinte ich herauszulesen. Das Massensterben im Ersten Weltkrieg war zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes bereits voll im Gang. Schiele war selbst nie an der Front, der Krieg als solcher auch nie Thema seiner Werke. Doch wenige Tage vor dem Kriegsende fielen seine Frau Edith und er selbst der Massenepidemie der Spanischen Grippe zum Opfer, die unter der von Kriegsentbehrungen geschwächten Bevölkerung grassierte.

So reifte in mir der Gedanke, ein Buch über Egon Schiele zu schreiben. Immer wieder sah ich mir seine Bilder an. Ich vertiefte mich in die schriftlichen Zeugnisse, die Briefe, Gedichte und Aphorismen, die er hinterließ. Ich zog die Memoiren der Freunde und Zeitgenossen zurate, im Wissen um ihre Unschärfe und persönliche Einfärbung. Ich sprach mit Kennern und Experten und machte mich mit den neuesten Forschungsergebnissen vertraut, die das Bild von Schiele vertiefen, ja sogar in ein neues Licht rücken. Ich bereiste die Orte, die in seinem Leben neben Wien eine wichtige Rolle spielten: die Geburtsstadt Tulln, die Schulstadt Klosterneuburg, das Refugium Neulengbach und seinen eigentlichen Wunschort, das Moldau-Städtchen Krumau (heute: Český Krumlov, Tschechien).

Die Beschäftigung mit Schiele und seiner Zeit erweckte in mir den Eindruck, dabei immer wieder auch an unsere Gegenwart zu streifen. Das Wien der Jahrhundertwende in seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit übt vielleicht deshalb so eine Faszination auf uns aus, weil auch wir mit einer ominösen Ahnung von Zeitenbruch leben. In jenem Wien erhob sich ein moderner, demagogischer Populismus. Über die skandalösen sozialen Zustände in den Elendsquartieren der Vorstädte wurde nonchalant hinweggesehen. Als im Krieg dann alle Hemmungen und Tabus fielen, Undenkbares denkbar, ja sogar Praxis wurde, stellten nachdenklichere Zeitgenossen die Frage, wie es denn möglich war, dass der Firnis der Zivilisation so schnell abblättern konnte.

Wir Heutigen sind gefordert, es nicht wieder so weit kommen zu lassen.

Erstes Kapitel

Lamento aus einer Hölle

Endlich! – Endlich! – Endlich! – endlich Linderung der Pein! Endlich Papier, Bleistifte, Pinsel, Farben zum Zeichnen und Schreiben. Qualvoll waren diese wild, wirr, wüsten, diese unterschiedslosen, ungeformten, eintönig graugrauen Stunden, die ich beraubt, nackt zwischen kalten kahlen Mauern, tiergleich verbringen mußte.

Egon Schiele, österreichischer Kunstmaler, 21 Jahre alt, wohnhaft in Au 48, einem Dorfteil der niederösterreichischen Bezirksstadt Neulengbach, saß am 16. April 1912 den dritten Tag in Folge in Untersuchungshaft im Neulengbacher Gefangenenhaus. Der junge, schlanke, hochgewachsene Mann mit schmalen Schultern, langen Armen, nach oben gekämmtem schwarzen Haar und ernstem Gesichtsausdruck war als Künstler zu diesem Zeitpunkt nur einem kleinen Kreis von Kennern und Enthusiasten in der Reichshauptstadt Wien bekannt. In diesen Zirkeln wusste man auch, dass Schiele Akte zeichnete und malte, nicht selten nach jungen, blutjungen Mädchen-Modellen. Die Vorwürfe, mit denen ihn die Justiz nun konfrontierte, waren schwerwiegend: Verdacht auf Entführung einer Minderjährigen (§ 96 StG), auf Schändung (§ 128 StG) und auf Verletzung der Sittlichkeit (§ 516 StG).

Das »Tagebuch«, aus dem wir hier zitieren, hat freilich nicht Egon Schiele geschrieben. Sein Autor ist Arthur Roessler, Schieles früher Freund, erster Biograf, Förderer, Anreger, Promoter, Deuter. Als »Kunstschriftsteller« – wie sich Feuilletonisten seiner Art damals nannten – hatte sich der äußerst gebildete und belesene Roessler im Wiener Kulturbetrieb Einfluss und Positionen geschaffen. Er schrieb Kunstkritiken für die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung – Victor Adler, der Führer der Sozialdemokraten, hatte ihn persönlich engagiert –, und als Leiter und Konsulent von Kunstgalerien, als Gründer und Autor von Kunstjournalen verfügte er über ein Netzwerk von Beziehungen und ein Lobby-Potenzial, das er immer wieder auch zur Förderung des um 13 Jahre jüngeren Schiele einsetzte.

Nach dem frühen Tod des Künstlers im Jahr 1918 veröffentlichte Roessler seine eigenen Erinnerungen an Schiele, Teile von Schieles schriftlichem Nachlass sowie im Jahr 1922 den Band »Egon Schiele im Gefängnis. Aufzeichnungen und Zeichnungen«. Der Textteil ist in Tagebuchform verfasst und erweckt den Eindruck, von Schiele zu stammen. Der Künstler durfte in der Untersuchungshaft von Neulengbach Malutensilien erhalten. Dort schuf er 13 aquarellierte Zeichnungen, denen er mit Bleistift kurze, mottohafte Texte hinzufügte. Ein Tagebuch schrieb er zwar in der Haft nicht. Tatsächlich dürfte er aber nach seiner Entlassung aus dem 24-tägigen Arrest seinem Freund Roessler viel darüber erzählt haben. Der versierte Feuilletonist behauptet im Vorwort zu der zehn Jahre später publizierten »Gefängnisschrift« auch nicht explizit, dass Schiele ihr Autor wäre. Vielmehr hält er fest: »Die nachstehenden Seiten enthalten den wörtlich und zeichnerisch geformten Niederschlag des Erlebnisses dieser 24 Tage.« Was auch immer dieser »Niederschlag« war, in Roesslers Nachlass, den das Wien Museum aufbewahrt, finden sich heute keine Notizen, die der ansonsten penible Kunst-Autor nach den Gesprächen mit Schiele über die Gefängnishaft im Jahr 1912 angefertigt hätte. In dem zehn Jahre später veröffentlichten Buch schreibt er Schiele Behauptungen und Wertungen zu, die nicht von ihm stammen konnten. Da scheut er auch nicht vor wortgewaltigen Ausschmückungen und Übertreibungen zurück. Atmosphärisch dürfte der mit schriftstellerischen Gaben ausgestattete Roessler die Verfasstheit des von der plötzlichen Gefängnishaft traumatisierten Schiele aber sehr wohl getroffen haben.

Hölle! eine, nicht die Hölle, aber eine niederträchtig gemeine, schmutzige, jämmerliche, beschämende Hölle ist die, in die ich unversehens gestoßen wurde.

Staub, Spinnwebe, Hustenspritzer, Niederschlag von Schweiß, auch Tränen, haben den grätzig-bröckelnden Mörtel dieser Kammer besprenkelt. Wo die Pritsche an der Mauer steht, sind die Flecke am dichtesten und die kalkige Tünche ist abgewetzt, ganz glatt und dunkel-fettig glänzend sind da die blutbrockenhaften Ziegel, wie poliert.

Was ein Verlies ist, weiß ich jetzt – hier sieht es aus wie in einem Verlies.

Doch was hatte Egon Schiele in diese missliche Lage gebracht? Was hatte ihn so brutal aus seinem Künstlerleben gerissen und in die – vielleicht etwas übertrieben dargestellten, aber gewiss so empfundenen – Abgründe der österreichischen Justiz gestürzt?

Schiele hatte sich im August 1911 in Neulengbach niedergelassen, um in Ruhe und umgeben von der reinen Natur schaffen zu können. Die 26 000-Seelen-Gemeinde war eine bedeutende Sommerfrische für begüterte Wiener. Schiele war mit dem Ort vertraut, weil sein Onkel und ehemaliger Vormund Leopold Czihaczek dort eine Sommervilla besaß, in der er als Kind und Jugendlicher öfters zu Gast gewesen war. Zu Beginn desselben Jahres hatte er die 16-jährige Wally Neuzil kennengelernt, die ihm als Aktmodell diente und seine Lebensgefährtin wurde. Wally besorgte ihm den Haushalt und nahm ihm die Buchhaltung ab. Offiziell war sie nicht in Neulengbach gemeldet, denn unter den damaligen Gesetzen und Normen war es praktisch nicht möglich, dass Unverheiratete formell zusammenlebten. Sie hielt sich aber fast ständig bei Schiele auf. Dieser durchlief Anfang 1912, bis zu seiner Verhaftung im April, die vielleicht produktivste Periode seines Schaffens: In nur kurzer Zeit entstanden die großen allegorisch-symbolistischen Gemälde »Eremiten«, »Bekehrung«, »Liebkosung« und »Agonie«, aber auch die wunderbaren Paar-Porträts »Selbstbildnis mit Lampionfrüchten« und »Bildnis Wally«, eine bildliche Liebeserklärung des jungen Künstlers an die Gefährtin an seiner Seite.

Schiele kämpfte wie schon zuvor mit erheblichen Geldsorgen – denn zum einen lebte er davon, was er an Bildern und Zeichnungen an eine kleine Schar von Gönnern zu verkaufen vermochte, zum anderen konnte er mit Geld nicht umgehen. Zugleich war er sich seiner künstlerischen Mission nun völlig sicher, hatte er die Höhe seiner Meisterschaft erklommen: durch »innere Seherschaft« die wahren Geheimnisse des Seins zu ergründen und sich selbst »fortzuschenken«. »Ich bin wissend geworden«, schrieb er im September 1911 an den Arzt, Förderer und Sammler Oskar Reichel in einer der wenigen schriftlichen Äußerungen, in denen Schiele sein Künstlertum zu erklären versuchte. »Wenn ich mich ganz sehe, werde ich mich selbst sehen müssen (…) Ich sehe mich verdunsten und immer stärker ausatmen, die Schwingungen meines astralischen Lichtes werden schneller, unvermittelter, einfacher und ähnlich einem großen Erkennen der Welt. So erbringe ich stets mehr, stets Weiteres, stets endlos Scheinenderes aus mir, so weit mich die Liebe, die alles ist, auf diese Art bemittelt und mich zu dem führt, wohin ich instinktiv gezogen werde, was ich in mich zerren will, um von neuem ein Neues zu bringen, was ich trotz mir erschaut habe. (…) Ich bin so reich, dass ich mich fortschenken muß.«

Schiele zeichnete und malte auch in dieser Zeit Akte, auch nach jungen Modellen, was in damaligen Metropolen wie Wien für Künstler nichts Ungewöhnliches war, in kleinstädtisch-dörflichen Milieus aber immer noch zu moralischer Entrüstung führen konnte. Nach Neulengbach war Schiele überhaupt erst gekommen, weil er im August 1911 aus seinem eigentlichen Sehnsuchtsort, dem böhmischen Krumau an der Moldau (heute: Český Krumlov, Tschechien), weggemobbt worden war, nachdem sich auf der für andere einsehbaren Gartenterrasse seines Ateliers ein Nacktmodell in der Sonne gerekelt hatte.

Zugleich ging Schiele mit alldem auf eine nahezu naive Weise unbefangen um. In seinem Neulengbacher Häuschen hatte er im Wohnzimmer einen Mädchenakt aufgehängt, möglicherweise noch mit einem Modell aus Krumau, sichtbar für jeden, der ihn besuchte. Schiele malte auch Kinder, die sich von ihm angezogen fühlten, weil seine heitere, verspielte und lockere Art auf sie als Kontrast zur Härte, Strenge und oft auch Lieblosigkeit der damaligen Erwachsenenwelt wirkte.

Zum Verhängnis in Neulengbach wurde Schiele aber ein 13-jähriges Mädchen, das unglücklich im Elternhaus war, für ihn schwärmte – und für das sich der gut aussehende, legere Schiele überhaupt nicht interessierte, zumal er in dieser Zeit glücklich mit Wally zusammenlebte. Tatjana von Mossig, Tochter eines pensionierten Marineoffiziers, riss an einem Abend im März 1911 von zu Hause aus und ging zu Schieles Häuschen, wo auch Wally anwesend war. Tatjana behauptete, es zu Hause nicht mehr aushalten zu können, und wollte zur Großmutter nach Wien. Es war bereits Abend, heftiger Regen setzte ein, und Schiele erlaubte es dem Mädchen, in dem Häuschen zu übernachten. Am nächsten Tag fuhr man zu dritt mit dem Zug ins 40 Kilometer entfernte Wien. Schiele ging zu einer Soiree bei dem bedeutenden Kunstsammler Carl Reininghaus. Da man zu spät ankam, wollte man nicht mehr Tatjanas Großmutter aufsuchen, sodass Wally mit dem Mädchen in einem Hotel übernachtete. Am nächsten Tag fuhr das Trio zurück nach Neulengbach. Dort holte der wütende Vater die ausgerissene Tochter ab. Dabei teilte er mit, dass er bereits Anzeige bei der Polizei erstattet habe.

Zweifellos hatte sich Schiele vor dem Hintergrund der damaligen bürgerlichen Normen äußerst leichtsinnig verhalten, auch wenn sich Wally und er letztlich nur um die Seelennöte eines pubertär ausrastenden Backfisches zu kümmern vermeinten. Am 11. April erschienen der Amtsdiener des Bezirksgerichtes und ein Polizist, um Schiele eine Vorladung als Beschuldigtem für den 13. April zu überbringen. Die beiden erblickten das Aktbild im Empfangsraum und konfiszierten es als Beweismittel. Schiele war erbost und meinte, dass dies eine harmlose Darstellung sei; er habe da schon ganz andere Sachen gemacht, die sogar ausgestellt worden seien. Die beiden Staatsdiener horchten auf und fragten, ob er etwas davon in seinem Heim habe. Schiele öffnete seine Schubladen – und zu seiner Bestürzung beschlagnahmten die Beamten 125 weitere Zeichnungen. Diese wurden ihm allerdings nach dem Verfahren wieder zurückgegeben, da sie, in Schubladen verborgen, den Tatbestand der »Erregung öffentlichen Ärgernisses« als Bestandteil des Strafparagrafen 516 (»Verletzung der Sittlichkeit«) nicht erfüllten. Bei der Einvernahme am 13. April wurde Schiele verhaftet, weil sich der Anfangsverdacht nun auch auf die schweren Delikte Entführung und Schändung erstreckte.

Ich muß mit meinem eigenen Kot wohnen, giftigen, stickigen Dunst einatmen. Ich bin unrasiert – ich kann mich nicht einmal ordentlich waschen. – Ich bin doch Mensch! – immer noch, wenn auch gefangen; denkt man daran gar nicht?

Der schlüsselrasselnde Schließer stellte mir einen Kübel, Besen, Bürste u. s. w. in die Zelle und befahl mir den Fußboden auszureiben. Darf das sein? Gemein, diese Zumutung. – Und doch war ich froh darüber; tätig sein zu können ist schon Wohltat. – Ich rieb und scheuerte, wusch und wischte mit aller Kraft. Knie, Rückgrat und Arme taten mir lang noch weh und die Finger sind wund, die Nägel abgebrochen. Ich wartete auf den Schließer, fast stolz auf das, was ich getan, und glaubte, daß er mich dafür loben würde. Er kam, sah auf den Boden, dann spuckte er aus, dahin und dorthin, gräßliche Patzen, und knurrte: »Dös soll ausg’rieben sein? Dös is a schweinische Schmiererei! Glei reibn’s den Boden no amal aus, aba urdentli, dös rat i Ihna guat!« – Und ich schleppte Wasser herbei und kniete nochmals hin und rieb und rieb.

Am 27. April erhielt Schiele die Anklageschrift. Die Ermittlungen wegen der angeblichen Entführung hatte die Behörde inzwischen eingestellt. Bei der Backfisch-Geschichte war die Suppe offenbar zu dünn – das Mädchen wurde gerichtsärztlich untersucht, seine Unberührtheit bestätigt. Aufrecht blieben die Anklagen wegen Schändung und wegen Verletzung der Sittlichkeit, Letzteres wegen des ausgehängten Aktbildes. Der Vorwurf der Schändung bezog sich nicht auf Tatjana von Mossig, sondern auf junge Mädchen, die Schiele Modell gestanden hatten und von der Polizei in diesem Zusammenhang einvernommen worden waren. Am 30. April wurde Schiele ins Gefangenenhaus St. Pölten überstellt. In der Hauptverhandlung am 4. Mai am Kreisgericht in St. Pölten sprach ihn ein Schöffensenat von der Anklage der Schändung frei. Für das Sittlichkeitsdelikt – die Aktzeichnung im Wohnzimmer – erhielt Schiele drei Tage Arrest. Die Untersuchungshaft wurde damals noch nicht angerechnet, sodass der Künstler insgesamt 24 Tage hinter Gittern verbrachte – oder, wie es Roessler für ihn formulierte: in einer Hölle ohne Farben schmorte.

Um mich sind alle Farben erloschen. Fürchterlich ist das. So farblos muß der Ort der Verdammten sein. Eine glühende, feurige Hölle wär ja schön! – und da alles Schöne beglückt, beseligt, wäre die flammende Hölle nicht Strafe; – nur die graugraue, die der unendlichen Eintönigkeit und Öde ist die wahre, schrecklich, satanisch strafende.

Die beschriebenen Tatsachen lassen sich aus Äußerungen und Darstellungen Schieles und Roesslers sowie diversen Korrespondenzen in Schieles Wiener Freundeskreis ableiten. Nicht unmittelbar nachvollziehbar ist heute, warum Schiele vom Vorwurf der Schändung freigesprochen wurde – ein Delikt, das ihm im Fall der erwiesenen Schuld eine längere Gefängnisstrafe eingebracht und womöglich seine bürgerliche Existenz zerstört hätte. Die Akten des Prozesses existieren nicht mehr. 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, schlugen sowjetische Truppen ihr Quartier im Kreisgericht St. Pölten auf. Weil es kalt war, verheizten sie die vorrätigen Aktenbestände. Der Autor Franz Wischin, der selbst Richter war und sich dann der Schiele-Forschung zuwandte, hält aber eine andere Erklärung für das Verschwinden der Prozessakten für weitaus wahrscheinlicher. Denn nach der damaligen Gesetzeslage waren Akten nach 30 Jahren Aufbewahrung zu »skartieren«, das heißt, amtlich zu vernichten. Das wäre demnach 1942 passiert. Eine Ausnahme wurde gemacht, wenn das zugrunde liegende Verfahren wegen seines Inhalts oder wegen beteiligter Personen von zeitgeschichtlichem, wissenschaftlichem oder politischem Interesse war. Dies musste man zum Zeitpunkt der Archivierung der betreffenden Akte eigens vermerken, um die nach 30 Jahren vorgeschriebene Vernichtung abzuwenden.

Nun kann man mit Fug und Recht behaupten, dass Egon Schiele im Mai 1912 für die Allgemeinheit noch nicht als Person von außergewöhnlicher zeitgeschichtlicher Bedeutung wahrnehmbar war. Dennoch gibt es ein Informationsfragment, das uns etwas mehr über die Hauptverhandlung verrät: Als Arthur Roessler 1922 das »Gefängnistagebuch« veröffentlichte, tat er dies nicht, um den Bestand objektiver Erkenntnisse über den »Fall Schiele« zu mehren, sondern im Dienste seiner Strategie, den immer noch nicht gebührend anerkannten Schiele als verkanntes, von einer engstirnigen und intoleranten Gesellschaft ausgegrenztes Genie zu promoten. »Die abgelaufene Zeit und der Tod des Künstlers schufen die Distanz, aus der gesehen Schieles damalige Haft als das erscheint, was sie in Wirklichkeit immer schon war: bösartiger Mißgriff übereifriger Sittlichkeitsschnüffler und leidvolles Martyrium eines bei Lebzeiten mißverstandenen Künstlers«, schrieb er nicht ganz ohne Chuzpe.

Im Oktober 1922 veröffentlichte der Philosophiestudent Johann Zunzer im nicht eben auflagenstarken Regionalblatt Wienerwald-Bote eine kurze Glosse, die den Inhalt des Schiele-Roessler-Büchleins zusammenfasste. Dabei ging er auf die behauptete Schikanierung Schieles durch den Schließer ebenso ein wie auf den nicht zutreffenden Umstand, dass Schiele über die Anklage im Unklaren belassen worden sei und erst beim Rundgang im Gefängnishof von einem Mithäftling von der Beschuldigung der Schändung erfahren haben soll. (»Gell, du hast a Mensch vazaht«, raunt ihm der Knastbruder im Schiele-Roessler-Text zu.) Dabei hatte der Künstler schon am 11. April 1912, als er die Vorladung erhalten hatte, an Carl Reininghaus geschrieben: »Ich muß Dir nochmals danken, daß Du mir Deinen Advokaten angeraten hast.« Offenbar waren der Vorladung schon andere Einvernahmen vorausgegangen, von denen sich keine direkten Zeugnisse erhalten haben. Der Rechtsanwalt Dr. Hans Weiser aus Wien, den Reininghaus bezahlte, verteidigte Schiele das ganze Verfahren hindurch. Einem Rezensenten des »Gefängnistagebuchs« wie dem Studiosus Zunzer konnten solche Details aus privaten Korrespondenzen freilich nicht bekannt gewesen sein. Seinen Beitrag schloss Zunzer ganz im neuen republikanischen Geiste: »Anfangs November 1918 starb Schiele an der Grippe, zu dem großen Allerseelen, als man einige Staaten zu den Toten zählte, darunter auch den Staat, der – pereat! – Schiele eingekerkert hatte. Schiele aber ruhe in Frieden und dem Staate, der ihm so Übles getan hat, sei keine Auferstehung beschieden!«

Dies rief nun den Landesgerichtsrat Dr. Max Scheffenegger auf den Plan, seines Zeichens Repräsentant des Zweigvereins St. Pölten der Richtervereinigung. In seiner Leserzuschrift an den Wienerwald-Boten verwehrte er sich gegen die Kritik Zunzers und des Schiele-Roessler-Buches an den wahren und vermeintlichen Zuständen in der österreichischen Justiz. Der Staat der Monarchie mag untergegangen sein, aber die Richter waren dieselben geblieben, und Dr. Scheffenegger sah sich bemüßigt, ihre Standesehre zu verteidigen. Tatsächlich kann man sagen, dass das Verfahren, soweit sich uns das heute rückblickend erschließt, den rechtsstaatlichen Normen genügte, zumindest nach damaligem Stand.

Jedenfalls ließ der Landesgerichtsrat die zehn Jahre alte, damals noch vorhandene Akte ausheben, um seine Argumente untermauern zu können. Dass sich Schiele nach dieser Dokumentenlage nie über das schikanöse Verhalten des Schließers beschwert habe, sagt per se nicht viel aus – im geschlossenen System der Gefängnisse wird, heute wie damals, mitunter Schlimmeres verschwiegen und vertuscht. Doch erwähnt Scheffenegger in seiner Entgegnung – über die erstmals Christian Nebehay in seiner umfangreichen Schiele-Dokumentensammlung von 1979 berichtete – eine Begründung für den Freispruch vom Schändungsvorwurf: »Egon Schiele wurde nicht wegen des angeklagten Verbrechens verurteilt, weil die hiefür einzig maßgebende Person als Zeuge bei der Hauptverhandlung ihre in der Voruntersuchung abgelegte Aussage in einem entscheidenden Punkte abgeschwächt hatte«.

Das ist immer noch sehr vage. Offenbar beschränkte sich der Landesgerichtsrat auf diese Andeutungen, weil die Akte nach damaligem Rechtsverständnis nicht öffentlich war. Was sich daraus ableiten lässt, ist, dass sich der Vorwurf der Schändung auf ein einziges Mädchen (»die hiefür einzig maßgebende Person«) reduziert hatte – und dass dieses seine Aussagen aus den polizeilichen Ermittlungen in der Hauptverhandlung abschwächte. Dies lässt Freiraum für Spekulationen. Über den Umgang Schieles mit minderjährigen Modellen gibt es wenige gesicherte Erkenntnisse – häufig kamen diese, wie auch bei anderen Künstlern, die wenig Geld hatten, aus subproletarischen Milieus. Oft waren es Mädchen, die von Eltern und Verwandten missbraucht worden waren. Die Grenzen zur Prostitution waren manchmal fließend. Grundsätzlich war aber Schiele – anders als etwa sein verehrtes Vorbild, der faunenhafte Gustav Klimt – nicht als großer Modelle-Vernascher bekannt. Außerdem lebte er 1911/12 harmonisch mit Wally zusammen. Franz Wischin meint in seiner Monografie über die »Affäre Neulengbach« (»Ich Gefangener«), dass der Freispruch im Schändungspunkt berechtigt gewesen sei. Schiele könnte das Mädchen angefasst und berührt haben, nur um es beim Modellstehen nach seinen Vorstellungen zu arrangieren, ohne jede sexuelle Absicht. Im Ermittlungsverfahren könnte allein die Aussage gewertet worden sein, dass der Künstler das minderjährige Modell angefasst und berührt hatte. Im Hauptverfahren sei dann, so Wischin, geklärt worden, dass diesen Berührungen keine unzüchtigen Motive zugrunde lagen, weshalb auf Freispruch zu entscheiden gewesen sei.

Die Information, dass die Hauptzeugin, ein uns heute unbekanntes minderjähriges Mädchen, ihre Aussage in der Hauptverhandlung abschwächte, lässt aber auch andere Deutungen zu: In der damaligen Gerichtspraxis war es nicht unüblich, die Äußerungen von Kindern, vor allem aus ärmlichen Milieus, in derartigen »Sittlichkeitsprozessen« als »überspannt«, als von »Fantasien beflügelt« abzutun. Kinder galten als »unreife«, »irrationale« Geschöpfe; auf ihre Befindlichkeiten wurde meist nicht Rücksicht genommen. Falls es im St. Pöltener Prozess überhaupt Sachverständige gegeben haben sollte, so war damals so etwas wie eine Psychologie des Kindes als wissenschaftlicher Standard unbekannt. Parallelen zum Fall des Architekten Adolf Loos drängen sich auf: Dieser wurde 1928 wegen »Verführung zur Unzucht« zu vier Monaten bedingtem Arrest verurteilt. Vom Vorwurf der Schändung an drei Mädchen im Alter von acht, neun und zehn Jahren wurde er freigesprochen. Dieser Prozess hatte sich darauf gestützt, dass Loos die Mädchen, die er nackt zeichnete, an ihren Geschlechtsteilen befingert und geleckt und sie seinerseits zum Reiben seines Geschlechtsteils angeleitet haben soll. Die diesbezüglichen Aussagen der Mädchen wurden aber unter Aufbietung prominenter psychiatrischer Gutachter als »unglaubwürdig« eingestuft. Verurteilt wurde Loos nur aufgrund seiner Skizzenbücher, in denen sich Darstellungen fanden, die etwa zwei der Mädchen mit dem Gesicht im Schoß des jeweils anderen zeigten. Im Fall Loos waren die Gerichtsakten verschollen, bis sie im Jahr 2014 auf mysteriöse Weise auf einem Wiener Dachboden auftauchten. Dieses nun zugängliche Dokumentenmaterial legt sehr wohl nahe, dass Loos die Minderjährigen aktiv missbraucht hat.

Schieles »Neulengbacher Affäre« scheint dennoch anders gelagert: Adolf Loos, einer der bedeutendsten Vertreter der modernen Architektur und Designkunst, ein Verächter jeglicher ornamentaler Ausschmückung und Apostel eines formschönen Funktionalismus, nach 1918 zudem ein Vorreiter des sozialen Wohnbaus, war ein Star seiner Zeit. Mit tonangebenden Intellektuellen und exzellenten Rechtsanwälten war er bestens vernetzt. Seine Verhaftung aufgrund der Schändungsvorwürfe und sein Prozess waren mediale Sensationen. Koryphäen wie Karl Kraus und Peter Altenberg setzten sich für seine »Unschuld« ein. Seine gewieften Anwälte verstanden es, das mediale Klima kampagnenartig zu steuern und so etwa die Aussagen der minderjährigen Opfer ins Unglaubwürdige zu ziehen. Die Gutachter Erwin Lazar und Hermann Frischauf gehörten zum Freundeskreis des Angeklagten. Loos’ Interesse am Aktzeichnen war dubios – er war Architekt, nicht bildender Künstler. Immerhin urteilte das Gericht, dass er die Mädchen »aus erregtem Geschlechtsgefühl« dazu veranlasst habe, als Modelle unzüchtige Stellungen einzunehmen. Mit der bedingten Strafe kam der pädophile Wiederholungstäter – vor diesem Fall hatte ihn die Polizei zwei Mal verwarnt, weil er im Prater kleine Mädchen angesprochen hatte – mit einem blauen Auge davon.

Schiele hingegen war 1912 ein Niemand, ein obskurer Kunstmaler mit einer scheinbaren Vorliebe für Erotika, der noch dazu in wilder Ehe mit seinem Modell zusammenlebte. Verhaftung und Prozess fanden in keiner einzigen Zeitung Erwähnung. Mit Dr. Weiser aus Wien, den ihm der steinreiche Carl Reininghaus schickte, hatte er zwar einen professionellen anwaltlichen Beistand, doch dies dürfte gerade eine gewisse »Waffengleichheit« in Hinblick auf einen gleichermaßen professionellen Anklagevertreter hergestellt haben. Da die Gerichtsakten nicht mehr existieren und die vorhandenen Informationen spärlich sind, müssen wir uns heute auf indirekte Evidenzen stützen. Im Falle des von zu Hause ausgerissenen Mädchens Tatjana von Mossig wurde das Verfahren schon in der Ermittlungsphase eingestellt, weil da nichts war: Zu jedem Zeitpunkt der vermeintlichen Entführung war Wally bei dem Mädchen gewesen. Wäre da etwas vorgefallen, hätte der Herr Papa als pensionierter Marineoffizier und Militärdiplomat seine Interessen vor der Justiz zu vertreten gewusst. Die angebliche Schändung des uns heute unbekannten Mädchens lässt uns eher im Dunklen tappen. Es kann jedoch als starkes Argument für die Unschuld Schieles angesehen werden, dass in Neulengbach Wally fast stets bei ihm war.

Gut ein Jahr später, im Februar 1913, kündigte aber Reininghaus dem Künstlerfreund Schiele unter Berufung auf den Fall Neulengbach überraschend das Du-Wort auf. Bislang habe er, so Reininghaus, angenommen, dass das Resultat des Gerichtsverfahrens »nicht schwer belastend« für Schiele gewesen sei, schrieb er an ihn. Doch: »Vor einigen Tagen schrieb mir jemand, der ihm [Schiele] absolut ferne steht, Gegenteiliges. Ich informierte mich nun maßgebend – und ich kann jenem jungen Künstler nicht mehr das persönliche Empfinden entgegenbringen, wie vordem.« Wer dieser »Jemand« war, der ihm »Gegenteiliges« berichtet haben soll, ließ sich Reininghaus nicht entlocken. »Das muß ein böser, lügenhafter Mensch sein, der die Welt ansieht mit blinden Augen«, schrieb Schiele in einem langen Brief zurück, in dem er weitere Aufklärung forderte. Er vermochte sich schlicht nicht vorzustellen, worauf sich die Anschuldigungen des Informanten von Reininghaus beziehen sollten. Der Sammler erwähnte in seiner Antwort das Aktbild, das für Kinder sichtbar gewesen war, die Schiele in Neulengbach besuchten, und für das er zu drei Tagen Arrest verurteilt wurde – was ihm aber seit eh und je bekannt gewesen sein musste, da er Schiele mit Dr. Weiser ja seinen eigenen Anwalt zur Seite gestellt hatte.

»Die Untersuchung ergab auch«, schrieb Reininghaus weiter, »daß er die Kinder zu gewissen Bewegungen mit ihren Rücken aufforderte. Dies hörte ich von einer Seite, die als maßgebend für die Richtigkeit der Mittheilungen angesehen werden muß.« Waren die »gewissen Bewegungen mit ihren Rücken«, zu denen Schiele minderjährige Modelle angeleitet haben soll, die Grundlage für die Anklage wegen Schändung? Hat das Gericht aber dann in der Hauptverhandlung darauf erkannt, dass diese möglicherweise äußerlich obszön erscheinenden Bewegungen und Stellungen lediglich dem Zwecke der Bilderstellung dienten und nicht – wie etwa im späteren Fall Adolf Loos – der »Erregung des Geschlechtsgefühls« des Malers hinter der Staffelei? Wie dem auch sei, Reininghaus vollzog wenig später eine Kehrtwendung. »Schiele, Sie sind – trotz Allem – ein Gottbegnadeter Künstler«, schrieb er Anfang März, nachdem er sich erneut Zeichnungen des Enfant terrible angesehen hatte. »Und wenn Sie’s brauchen, würd’ ich Ihnen wieder ein wenig helfen.« Den hochbegabten jungen Maler wollte er in seinem Kreis also doch nicht missen, und dieser war ohnehin auf die Ankäufe des gut zahlenden Mäzens angewiesen. In der Anrede blieb Reininghaus aber beim förmlichen Sie.

In den letzten Jahrzehnten haben die Gesetzgeber in den westlichen Ländern die sexuellen Praktiken von Erwachsenen erheblich liberalisiert, zugleich aber den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen und Nötigungen durch Erwachsene stark ausgeweitet. Ein heutiger Egon Schiele würde bei der uns bekannten Faktenlage nicht mehr so ungeschoren davonkommen wie der historische. »Nur drei Tage kriegt für Kinder- oder Jugendpornografie heute keiner«, meinte der Rechtsanwalt Helmut Graupner, ein Experte für Sexualstrafrecht, 2011 in einem Interview mit der Wiener Wochenzeitung Falter. »Die Strafen für Kindesmissbrauch in Form der Veranlassung zum sexuellen Posieren liegen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren.« Wie wir sahen, machte die Justiz zu Schieles Zeiten einen Unterschied, ob der Künstler die sexuelle Pose nur aus künstlerischen Gründen veranlasste oder sich dabei selbst erregte. Nur Letzteres war strafbar. Aus heutiger Sicht ist das unhaltbar, weil es für das Kind als Opfer eben keinen Unterschied macht, ob der Künstler sich beim Arrangieren der sexuellen Posen erregt oder nicht. Aber auch das Sichtbarmachen eines Mädchenaktes wird heute strenger geahndet. »Für die Weitergabe von Kinder- und Jugendpornografie bekommen auch Ersttäter regelmäßig ein paar Monate unbedingter Haft«, so Graupner. Und während damals der bloße Besitz von Kinderpornografie nicht bestraft wurde, so wird er das heute sehr wohl.

Schiele hatte die 24-tägige Haft dennoch schwer in Mitleidenschaft gezogen. Roessler, sein damals wichtigster Vertrauter, war kurz davor zur Kur an den Gardasee gefahren. Heinrich Benesch, ein österreichischer Eisenbahnbeamter, der noch vor Roessler Schiele für sich entdeckt hatte und mit großer Leidenschaft Werke des Künstlers kaufte, soweit ihm das seine bescheidenen Mittel gestatteten, besuchte Schiele drei Mal in der Haft. Er holte ihn auch zusammen mit Wally nach Verbüßung des Arrests in St. Pölten ab. Wally besuchte den Häftling gleichfalls, sooft sie konnte, was Schieles Zuneigung zu seiner Gefährtin verstärkte.

Die 13 aquarellierten Zeichnungen aus der Neulengbacher Haft zählen zu den dramatischsten Werken des Künstlers. Einige davon sind Selbstporträts, in denen er sich abgemergelt, unrasiert, in sackartige Kutten gehüllt, quasi als Märtyrer darstellt. Dies unterstreichen auch Textzusätze wie: »Den Künstler hemmen ist ein Verbrechen, es heißt keimendes Leben morden!« Eines der Selbstporträts zeigt ihn – wie Johann Thomas Ambrózy herausgefunden hat – in der Pose des Florestan aus Beethovens Oper »Fidelio«, wie dieser in der Ausstattung von Alfred Roller in der legendären Hofoperninszenierung von 1904 kostümiert gewesen war, mit dem Textzusatz: »Ich werde für die Kunst und meine Geliebten gerne ausharren!« Schiele ging gerne in die Oper; der von Gustav Mahler inszenierte und von Roller ausgestattete »Fidelio« blieb noch Jahre auf dem Spielplan, und im »Gefängnistagebuch« lässt Roessler ihn sagen:

Spaziergang im Gefängnishof. Roller ist gewiß ein großer Künstler, aber sein Gefängnishof in »Fidelio« ist doch nur Theater, während das Gemälde Gefängnishof von van Gogh packendste Wahrheit ist, große Kunst.

Auf einem anderen Blatt sehen wir den Korridor des Zellentrakts, ein Stillleben mit säuberlich aufgestellten Putzbesen, Zuber und Tonnen, mit dem Text: »Nicht gestraft sondern gereinigt fühl ich mich!« Ironie oder Trotz? Anspielung auf die im »Tagebuch« überlieferte Episode mit dem schikanösen Schließer? Berührend ist hingegen jenes Aquarell, auf dem Schiele das Innere seiner Zelle verewigte, mit der Tür und der Pritsche, auf der eine Orange platziert ist, die ihm Wally gebracht hatte. »Die eine Orange war das einzige Licht«, schrieb Schiele dazu.

Das Gefangenenhaus in Neulengbach mit den sechs Zellen für Männer und drei für Frauen wurde 1956 aufgelassen. Teilweise diente es in der Folge als Kohlenlager. Wer heute in den kleinen niederösterreichischen Flecken kommt, findet dort eine Schiele-Gedenkstätte vor, bereichert um Requisiten modernen musealen Re-Enactments. Im Zellentrakt sind Putzbesen, Zuber und Tonnen auf dieselbe Weise angeordnet wie auf Schieles Gefängnisblatt. Und inmitten der Pritsche thront die Orange, mit der Wally die Tristesse des eingekerkerten Künstlers aufhellte.

Das Verdienst, diesen – so empfundenen – Schreckensort entdeckt zu haben, gebührt der amerikanischen Schiele-Forscherin Alessandra Comini: Sieben Jahre nach der Auflassung des Knasts, im August 1963, reiste sie auf den Spuren Schieles nach Neulengbach, um das Gefängnis zu finden, das keines mehr war. Mürrische Beamte wimmelten die eigensinnige junge Amerikanerin damit ab, dass Unbefugte da nicht rein dürften, weil dort »wichtige Regierungspapiere« lagern würden. Comini tat etwas, was im damaligen Österreich Erfolg verhieß: Sie kehrte in der langen Mittagspause zurück, während der die Beamten aus dem unverschlossenen Amtsgebäude desertiert waren, und schlich sich in die Kellerräumlichkeiten. Und wie fand sie Schieles Zelle? Der Künstler hatte auf seinem Orangen-Bild die Zellentür dermaßen getreu wiedergegeben, dass darauf die von einem Vorgänger eingeritzten Initialen »M. H.« zu sehen sind. 1963 prangten sie unverändert auf der Innenseite der Tür zur Zelle Nr. 2.

Zweites Kapitel

Das Bahnhofskind von Tulln

»Pffffff! Pffff! – Schnellzug nach Prag über Gmünd und Tabor steht zur Abfahrt bereit! – (Ein lang gezogener Pfiff) – Tsch-tschtsch-tsch –tsch! – Rattattam – rattattam – rattattam! – Stationsvorstand Greifburg! Achtung! Schranken runterlassen für den Schnellzug nach Prag! – Eannnngn! Iiiiiiiing! – Lastzug aus Wien fährt ein. – Iannng!«

»Eeegon«, tönt spitz die Stimme der Mutter aus dem Wohn- und Speisezimmer »’S Essen is fertig!«

»Rattattam – rattattam – rattattam …« Selbstvergessen lässt der Knabe im Kinderzimmer die Spielzeugeisenbahn über die Schienen, die er aus Holzleisten geschnitzt hat, an den Schranken von Greifburg vorbei Richtung Prag rollen. Die Bahnschranken, die Stationshäuschen von Greifburg, Reidling und anderen Bahnhöfen entlang der Kaiser-Franz-Josephs-Bahn hat er sich aus Baukästen zusammengebastelt.

»Egon, kumm endlich!«, hört er nun die Mutter rufen. »’S gibt Zwetschgenknödln, was’d am liabsten host.«

Das brauchte sich der Achtjährige kein zweites Mal sagen zu lassen. Trotzdem verharrt er noch eine Weile vor dem großen Kommodenspiegel, um sein Bild zu betrachten. Die Schwestern – die zwölfjährige Melanie und die vierjährige Gerti – sitzen bereits ungeduldig am Mittagstisch, vor ihnen stehen Teller mit Fleisch und Gemüse sowie die dampfende Schüssel mit den begehrten Knödeln. Der Vater wird heute nicht zu Tisch kommen, er fuhr am Morgen zu einer Dienstbesprechung nach Wien.

»Tuama wieda tauschen!«, gibt der Knabe in einem keinen Widerspruch duldenden Ton kund. Flink schaufelt er das Fleisch und Gemüse, das die Mutter dem Spätankömmling serviert hat, auf die Teller von Melanie und Gerti, und ebenso flink landen die Knödel auf seinem Essgeschirr. »Imma dassölbe«, grummelt die ältere Schwester resigniert. Egon entkernt die Zwetschgen im Inneren der Knödel, zerschneidet die süß-klebrigen Klöße und schüttet einen Berg Staubzucker über das Gericht. Dann hält er seine beiden kleinen Hände über den Teller und drückt ihn fest an sich. Vor Wonne schmatzend verzehrt er die süße Masse.