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Thomas Chorherr
Requiem für die Krawatte

Thomas Chorherr

REQUIEM
FÜR DIE
KRAWATTE

Die Entbürgerlichung des Bürgerlichen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2016 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin

Grafische Gestaltung/Satz: BoutiqueBrutal.com

Lektorat: Stephan Gruber, feintext.eu

Gesamtherstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978 3 7017 4541 8

Inhalt

Kapitel 1

Mit den Kroaten fing es an

Kapitel 2

Die Lager – nicht militärisch gemeint

Kapitel 3

Ich bin ein Bildungsbürger

Kapitel 4

Wie grüßt man den Führer?

Kapitel 5

Schön sprechen, immer schön sprechen!

Kapitel 6

Als der Opernball noch lustig war

Kapitel 7

»Herr Kollege, kommen Sie vom Segeln?«

Kapitel 8

Was sich alles nicht gehört

Kapitel 9

Einladung in die Bussi-Bussi-Gesellschaft

Kapitel 10

Duzen, siezen, erzen – und andere Anredetücken

Kapitel 11

Bobos adeln den Brunnenmarkt

Kapitel 12

Die Schichten, die Milieus, die Gleichheit

Kapitel 13

Mittelstand: Der Kitt bröckelt

Kapitel 14

Der Ring um die Großbürger

Kapitel 15

Bildung, Halbbildung, Unbildung

Kapitel 16

Die »Verheutigung« der Eliten

Kapitel 17

Dummheit und »Judenblattl«

Kapitel 18

Der egalitäre Müßiggang

Kapitel 19

Gib acht, was sich gehört!

Kapitel 20

»Tschüssi« zum Grüß Gott

Kapitel 21

Zufriedenheit – eine Märchenfigur?

Kapitel 22

Das ewige Thema »Geschmack«

Kapitel 23

Wir sind nicht alle gleich

Kapitel 24

Bürgerlich oder konservativ – oder was?

Kapitel 1

Mit den Kroaten
fing es an

Es klang wie ein Scherz und war doch ernst gemeint. Immerhin kann man es in einem offiziellen Antrag an die EU-Kommission lesen, der 2015 in einem Protokoll enthalten war. Was seither damit geschah, weiß ich nicht. Vielleicht hat man es vergessen, dem Papierkorb überlassen, anderwärtig verarbeitet. Vielleicht auch übersehen. Mich hat der Antrag, der von einer Gruppe vorwiegend kroatischer EU-Abgeordneter stammte, jedenfalls positiv betroffen. Ich hätte ihm, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, zugestimmt.

Die Kroaten haben beantragt, die Europäische Union solle einen »Tag der Krawatte« schaffen. Dass es gerade Kroaten waren, die solches wünschten, ist nicht verwunderlich. Immerhin ist die Krawatte im 17. Jahrhundert in Europa entstanden, jene Halszierde, die, wie es im Antrag heißt, »durch kroatische Kavallerie Verbreitung fand, mit der Zeit zu einem unverzichtbaren Bekleidungsgegenstand geworden ist und allmählich die ganze Welt erobert hat«. Die kroatischen EU-Abgeordneten wurden noch deutlicher: Sie begründeten ihren Wunsch nach einem »Tag der Krawatte« mit der Tatsache, dass »auf dessen Grundlage ein solch vornehmer Bekleidungsgegenstand als Teil des europäischen kulturellen Erbes, der europäischen Identität, der Kommunikation und der Gestaltung anerkannt wird, mit dem Ziel der Erhaltung und Stärkung der Beziehungen zwischen den Europäern und ihren Beziehungen zur ganzen Welt«.

Über den Verbleib des Antrags der Kroaten in der EU-Kommission ist, wie gesagt, nichts bekannt. Wenn er vergessen worden sein sollte, ist es nicht schade um ihn. Wenn er nicht ernst gemeint war, umso weniger. Das Requiem für die Krawatte scheint längst angestimmt worden zu sein. Scheint, nicht ist. Die Krawatte als Zeichen bürgerlicher Lebensweise und entsprechenden Kleidungsstils ist ebenso wenig aus der Mode wie das, was man heute unter »bürgerlich« versteht. Allein, sie gehört nicht mehr zum Alltag. Mag sein, dass sie der Periode der Entbürgerlichung zum Opfer gefallen ist. Aber das Bürgerliche gibt es nach wie vor. Mag sein, dass sich seine Form geändert hat. Es hat neue Erscheinungen und Ausdrucksweisen. Es lebt indes wie eh und je.

Dieses Buch wird sich mit der Frage befassen, was man zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter »bürgerlich« versteht. Es wird versuchen, einer vermeintlichen Entbürgerlichung nachzuspüren. Es will klären, ob Hemdsärmel und Leibchen die Krawatte und das kleine Schwarze beim Theaterbesuch abgelöst haben. Ob der Hinweis »Das sagt man nicht« zugunsten von Formulierungen ersetzt wurde, die früher nicht einmal im Dialekt ausgesprochen worden sind. Ob wir Zeugen einer Entwicklung sind, nach der das, was man früher als Bürgertum bezeichnen konnte, seinem Inhalt nach noch Wertbeständigkeit besitzt, oder ob es zum Anachronismus geworden ist. Ob Begriffe wie Eleganz oder Anstand noch aktuell sind, oder ob die Entbürgerlichung alle Facetten des öffentlichen und privaten Lebens erreicht hat. Dieses Buch soll, so betrachtet, eine Bestandsaufnahme sein. Es soll zu klären versuchen, wieweit eine allfällige Entbürgerlichung das Bürgerliche in allen Bereichen des Lebens abgelöst hat. Und wieweit diese vermeintliche Entbürgerlichung durch eine Re-Verbürgerlichung ersetzt wird.

Das Bürgerliche ist dabei politisch und gesellschaftlich zu verstehen. Beide Erscheinungsformen sollen in diesem Buch erläutert werden. Hinzu kommt der Unterschied zwischen »bürgerlich« und »konservativ«. Sind beide Begriffe wechselseitig zu verstehen? Und zu beachten ist noch das viel zitierte Lagerdenken. Gibt es ein bürgerliches Lager, gibt es ein solches auch heute noch?

Es gibt Autoren, die sich ein Pauschalurteil abringen und es sich auf diese Weise leicht machen. So hat sich etwa schon 2010 die linksliberale Wiener Stadtzeitung Falter unter dem Titel »Was ist das, bürgerlich?« ausführlich mit der Frage befasst. Und hat gleich auch festgestellt, was zu sagen war: »Das Wiener Bürgertum hat seine kulturelle Überlegenheit längst verloren. Geblieben ist nur Kleinmut.«

Der Falter glaubt zu wissen, wovon er schreibt. Es sei gestattet, ihm ausführlicher das Wort zu geben: »Die Bergsalami ist aus Frankreich, das Olivenöl aus der Toskana, das Rindsfilet aus Japan, Wagyu-Beef für 299 Euro das Kilo. Das Personal im eleganten dunklen Interieur übt sich in antiquierter Höflichkeit. Hier kann man noch den bodenlangen Zobel ausführen, ohne von Tierschützern angepöbelt zu werden, hier kann man noch ungestört von Sozialneid ein halbes Durchschnittsgehalt in Wein und Meeresfrüchte investieren. Der Meinl am Graben ist ein Haus, in dem der diskrete Charme der Bourgeoisie überall spürbar ist. Einer der wenigen Plätze, der die alte Welt des großbürgerlichen Wien widerspiegelt.«

Der »Meinl am Graben« war dem österreichischen Fernsehen immerhin einen einstündigen Beitrag wert, der an Werbewirksamkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Aber er ist nicht das einzige Relikt des bürgerlichen Wien, soll heißen: des Bürgerlichen überhaupt, wenn man dem Falter glauben darf. Er nimmt immerhin seine Zuflucht auch beim früheren ÖVP-Bundesobmann Erhard Busek, der behauptet: »Vom Geist der Bürgerlichen des 19. Jahrhunderts ist nicht viel geblieben.« Es gebe in der modernen Stadt nur mehr wenige Orte, denen die Bürgerlichen ihren Stempel aufdrücken: das Sacher, den Musikverein, die Josefstadt. »Das Wiener Bürgertum existiert heute vor allem in den Köpfen der Konservativen«, statuiert der Falter und beruft sich auf den früheren deutschen Burgtheaterdirektor Claus Peymann. Seit dessen Ära als Chef des einstigen Tempels deutschsprachigen Theaterwesens habe eine »kompromisslose Dekonstruktion der österreichischen Identität« stattgefunden.

Dass sich seit dem Falter-Artikel – von ihm wird noch die Rede sein – in der Frage, was man heute in Österreich unter »bürgerlich« verstehen darf, noch viel mehr geändert hat, als die Falter-Leute geglaubt haben, überrascht jene nicht, denen die soziale Entwicklung der österreichischen politischen Szene vertraut ist. Zur Illustration mag dienen, was der auf der anderen Seite des politischen Spektrums angesiedelte Andreas Unterberger nach den Wiener Gemeinderatswahlen 2015 in seinem Blog schrieb. Auszugsweise darf es zitiert werden: »Wohin ist das bürgerliche Lager entschwunden? Die Antwort mag manche verblüffen: Es gibt gar kein bürgerliches ›Lager‹. In Begriffen wie ›Lager‹ zu denken ist im heutigen Österreich ein grober Anachronismus.« Längst habe »eine totale Vermischung des bürgerlichen Lebensstils mit dem jener Welt stattgefunden, die einst als proletarisch angesehen worden ist. Von Fußballbegeisterung bis zum Würstelstand gehört alles auch irgendwie zum bürgerlichen Lebensstil. Selbst die Kleidung ist kein Unterschied mehr, seit die – soziologisch ja eigentlich eindeutig bürgerliche – 68er-Bewegung, also die der heutigen Großväter, auch hier für massive Veränderung gesorgt hat.«

Bürgerlicher Lebensstil? Was ist das eigentlich? Noch einmal: In Spurenelementen ist er nach wie vor vorhanden, ist das Bürgerliche nicht verschwunden. Es existiert nach wie vor. Irgendwie hat man den Eindruck, dass es sogar in Bevölkerungsschichten, die man (auch darüber muss noch geschrieben werden) »bildungsfern« nennen mag, als Wunschvorstellung präsent ist.

Noch einmal also: Ist das Bürgerliche wirklich verschwunden? Ist es nicht mehr vorhanden? Ist die Krawatte (dieses Attribut der Eleganz) nur mehr ein Merkmal einer Vergangenheit, die man vielleicht betrauert, aber als verschwunden zur Kenntnis nimmt? Oder, offen und unverblümt gefragt: Was heißt »bürgerlich« wirklich? Was hieß es, gibt es diesen Begriff überhaupt noch?

Längst habe »eine totale Vermischung des bürgerlichen Lebensstils mit dem jener Welt stattgefunden, die einst als proletarisch angesehen worden ist«, behauptet der erwähnte Andreas Unterberger, »rechter« Denker von Gnaden. Die Entbürgerlichung hat also längst Platz gegriffen – sollte man meinen. Dass parallel dazu eine Re-Verbürgerlichung stattfindet, ist eine nahezu unmerkliche Erscheinungsform sozialer Wandlungen. Die Re-Verbürgerlichung kann aufdringlich sein. Dann stört sie. Sie kann unmerklich vor sich gehen. Dann ist sie kaum spürbar und doch gleichwohl das, was viele Menschen empfinden: Sie wünschen wieder eine Spur mehr von dem, was man – nun, sagen wir: Stil nennen könnte.

Stil. Vielleicht auch Eleganz? Immer wieder das, was man so treffend als »G’hört sich« bezeichnen könnte? Stil ist einer jener Begriffe, die sich am schwersten definieren lassen. Gibt es einen bürgerlichen Lebensstil? Ist das, was man »bürgerlich« nennt, auch für einen bestimmten Lebensstil anwendbar? Und was ist, so betrachtet, das Gegenteil von »bürgerlich«? Noch einmal: Fragen über Fragen. Dass der Krawatte das Requiem geblasen werde, stimmt nicht. Der Eintritt in das – sagen wir: bürgerliche – Leben vollzieht sich neuerdings, wie sich feststellen lässt, in einer Spur dessen, was man auch heute noch als Eleganz bezeichnen könnte. Man zieht sich »anständig« an, was immer das auch heißen mag.

Diese vermeintliche Re-Verbürgerlichung, ob laut oder leise, ist allenthalben zu bemerken. »Die roten Bürger« hieß schon vor etwa eineinhalb Jahrzehnten ein Buch, in dem ich mich mit dem Austro-Sozialismus befasste. Die Sozialdemokraten im Nadelstreif – das war das, was zu Beginn des dritten Jahrtausends die politische Werteskala füllte. Noch waren zwei sogenannte Großparteien ausschlaggebend, der »Rest« waren Kleinparteien. In den letzten Jahren ist dann die FPÖ zur Mittelpartei herangewachsen, parallel dazu wurden die einstigen großen zu mittleren Fraktionen.

Dieser Wandel in der politischen Landschaft ist seither weitergegangen, sein Ende ist noch nicht abzusehen. Bei der letzten Bundespräsidentenwahl waren erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg nicht Kandidaten der Regierungsparteien unter den stimmenstärksten, sondern solche der Opposition. Das Tor zur Dritten Republik war aufgestoßen. Die Zeit, da es eine christlichsoziale und eine sozialdemokratische Partei gab, ist Geschichte. Das politische Feld ist heute breiter. »Rote« im Nadelstreif sind nichts Außergewöhnliches mehr.

Entbürgerlichung, Re-Verbürgerlichung? Viele Leute sind der Meinung, zu Beginn des dritten Jahrtausends habe sich mehr geändert als in den beiden vorher. Vieles, wenn schon nicht alles, ist anders, als es war. Auch der viel diskutierte Begriff der Elite ist ein neuer geworden. Gleichzeitig bricht sich der Egalitarismus Bahn – der Gedanke allgemeiner politischer Gleichheit.

Wir befinden uns in einer Welle der – wessen? – der Schlamperei, der Nonchalance, der Beliebigkeit. Oder doch der Entbürgerlichung, der die von offenbar vielen gewünschte Re-Verbürgerlichung entgegentritt?

Es ist unvermeidlich, hier einen Schritt ins Politische zu tun. In eine Ära, da das Bürgerliche dem vierten Stand, den Arbeitern, fremd war. Bürgerliche waren pfui. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«, lautete die Devise. Die Proletarier sind eine politische Kategorie geworden – zum Unterschied von jenen, die gerne diffamierend als »Proleten« bezeichnet werden. Der Unterschied ist gewaltig. Proletarier, Proleten, Prolos – Begriffe, die in diesem Buch noch ausführlich behandelt werden. Begriffe auch, die der bürgerlichen Sprache entstammen und die im Verlauf der Entbürgerlichung Bedeutungsänderungen erlebten. »Prolet« ist ein Schimpfwort und wird eines bleiben, auch wenn es sich um Menschen aus höheren sozialen Schichten handelt. Proletarier – gibt es diese politische Kategorie überhaupt noch? Oder hat die Re-Verbürgerlichung längst auch diese soziale Schicht umfasst? Die Entbürgerlichung jedenfalls spielt sich mehr denn je auch in der Soziolinguistik ab. Auch dies wird dieses Buch nachweisen.

Wir haben die Schwelle von einer Zeit, da das Bürgerliche nicht so außergewöhnlich war, wie es heute scheint (wohlgemerkt: scheint, nicht ist), in eine Epoche überschritten, da es bei vielen in die falsche Kehle gerät. Bürgerlich – ist das wirklich von vorgestern? Ist das wirklich »ultrakonservativ«? Entbürgerlichung kann aufdringlich sein. Dann wird es zur Manifestation einer politischen Kontrahaltung.

In Griechenland ist Alexis Tsipras mit seiner Syriza-Partei der Beweis dafür. Die Garderobe ist Deckmantel für die politische Überzeugung. Tsipras und Genossen waren Außenseiter, sogar Außenseiter der sozialdemokratischen Familie. Sie bildeten lange Zeit einen Kontrapunkt zu dem, was man sich als politische Gruppierung in einem Gesamtbild vorstellt, das keine Abweichungen akzeptiert, weder links noch rechts. Griechenland suchte und fand mit Tsipras eine neue Politik. Die Syriza-Abgeordneten gaben sich ungewöhnlich. Sie trugen offene Hemdkrägen und wiesen dies als politische Demonstration vor. Dass ein Finanzminister mit dem Motorrad ins Parlament fuhr und seine Akten in einem Rucksack trug, daran hatten sich die Wähler gewöhnt. Sie entschieden sich damals mit Mehrheit für das Ungewöhnliche. Aber nicht lange. Irgendwie mutete der neue Habitus an wie eine Provokation. So war er auch gemeint.

Die Entbürgerlichung der Gesellschaft wird vielfach zu Recht als eine solche Provokation verstanden. »Das sagt man nicht« ist fast zu einer gesellschaftlichen Floskel geworden. So betrachtet, könnte man die Entbürgerlichung auch als Vulgarisierung bezeichnen. »Das sagt man nicht«, hieß es einst. Das Vokabular hat sich geändert. Man darf heute Wörter verwenden, die auszusprechen man früher nicht gewagt hat. Die Vulgarisierung ist gar zur Brutalisierung geworden. In der Tat: Der Falter hat recht. Die heimische Kultur ist eine »kompromisslose Dekonstruktion der österreichischen Identität« geworden. Quod erat demonstrandum.

Kapitel 2

Die Lager –
nicht militärisch gemeint

Am 12. März 1945, knapp vor zwölf Uhr Mittag, unterbrach der »Kuckuck« die Sendungen des »Großdeutschen Rundfunks« in Wien. Ich saß in einer der »Restschulen«, in die man die in Wien verbliebenen Gymnasiasten verlagert hatte; die überwiegende Mehrzahl war entweder mit der »Kinderlandverschickung« oder anderwärts weggebracht worden. Der »Kuckuck«, das war jenes Signal, das anzeigte, dass die normalen Sendungen beendet wurden, um allfälligen feindlichen Bombern keine Kontaktmöglichkeit zu geben.

Wenn der »Kuckuck« rief, begannen die Leute zu rennen. Sie suchten einen bombensicheren Unterstand. Ich lief von der Hainburger Straße im dritten Bezirk in die Postgasse, wo mein Vater – der, weil mit einer sogenannten Halbjüdin, meiner Mutter, verheiratet sowie aus Altersgründen nicht felddiensttauglich war – als Plakatzeichner in der Polizeidirektion beschäftigt war. Das Haus aus dem Mittelalter war tief unterkellert. Wir alle meinten, dort sicher zu sein.

Wir waren es. Das Licht flackerte und verlöschte gelegentlich, Bombeneinschläge spürte man sogar im zweiten Kellergeschoß, aber es ging vorüber, so wie die anderen schweren Bombenangriffe im Herbst 1944 und Frühwinter 1945. Und dann kam »Entwarnung« – und ich, der Zwölfjährige, erklomm das Tageslicht.

Um es kurz zu machen: Der 12. März 1945 war der schwerste amerikanische Bombenangriff, der die Wiener Innenstadt traf. Man hat uns später erzählt, dass das Datum bewusst für den Vortag des 13. März gewählt worden war, um uns Österreichern – und den Wienern zumal – noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass am 13. März 1938 der »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich verkündet worden war, mit allem, was daraus folgte.

Der 12. März 1945 zeigte, was gemeint war. Die Ringstraße lag in Trümmern. Die Oper war eine rauchende Ruine, das Burgtheater schwer beschädigt, die Universität ein teilweiser Trümmerhaufen, die meisten anderen Bauten des einstigen Prachtboulevards schwer zerbombt. Am Vorabend waren sie noch heil gewesen.

Die Amerikaner hatten demonstriert, was ihre Bomber zu leisten in der Lage waren. Als im Jahre 2015 das 150-jährige Jubiläum der Wiener Ringstraße gefeiert wurde, habe ich mich mit vielen anderen Altersgenossen an diesen 12. März erinnert. War es ein Zufall, dass die US-Bomben ausgerechnet alle jene Gebäude zerstörten, die hundertfünfzig Jahre vorher als Beweis dessen dienen sollten, was das Bürgertum – eigentlich Großbürgertum – für diese Stadt leisten konnte?

»Es ist Mein Wille«, leitete Kaiser Franz Joseph 1857 seine »allerhöchste« Anordnung ein und verlangte die Umfriedung der Innenstadt durch einen Gürtel, der die City von den Vorstädten unterscheiden sollte. Unterscheiden musste. Die Innenstadt – das waren zumeist die Hofburg und die Adelspaläste. Die neue Ringstraße – das waren die Bauten der Aristokratie und des Großbürgertums. Sie war aber auch Demonstration des Bildungsbürgertums. Die Ringstraße ist seither ein Prachtboulevard – einer der schönsten der Welt. In Wahrheit aber auch ein jüdischer Prachtboulevard – und zudem einer, der bewies, was das Wiener Bildungsbürgertum zu leisten imstande war.

Dass die Amerikaner am 12. März 1945 gerade diese Straße zerstörten, sollte offenbar zeigen, dass Wien aus der Geschichte nichts gelernt habe. Die Amerikaner behaupteten dies. Dass der Bomberkapitän, der die Staatsoper zerstörte, angeblich Selbstmord beging, als er erfuhr, welches kulturhistorische Monument er vernichtet hatte, ist zwar eine Legende. Aber irgendwie hängt das Ereignis doch mit der Bedeutung der Frage zusammen, inwieweit Österreich vorher und seither das Bürgertum – was damit gemeint ist, will ich nachher überprüfen – hochgehalten hat. Was bürgerlich vorher hieß – und was von ihm übrig geblieben ist.

Großbürger, jüdische vor allem, waren in den letzten Jahrzehnten des vorletzten Jahrhunderts nicht zuletzt prägend bei der Gestaltung der Donaumetropole. Der Bombenangriff vom 12. März 1945 war aber interessanterweise auch ausschlaggebend für die Tatsache, dass Wien seither immerhin ein Kernpunkt dessen geblieben ist, was man »bürgerlich« mit allen Variationen bezeichnen könnte.

Was wieder zur Frage führt: Was ist bürgerlich? Was versteht man darunter? Gibt es das Bürgerliche heute noch, oder ist es endgültig zum Anachronismus geworden, zu einer Erscheinungsform der Gesellschaft, die in der Gegenwart keinen Platz mehr hat? Die Antworten klingen ähnlich, ob sie nun von Linken oder von Rechten, von sogenannten Konservativen oder von sogenannten Liberalen gefordert werden. Die Frage, was denn der Unterschied ist zwischen »bürgerlich« und »konservativ«, will ich später diskutieren. Hier will ich erst einmal untersuchen, was bürgerlich ist. Dazu gehört vor allem auch die Frage, ob das Bürgerliche ein gesellschaftlicher oder ein politischer Begriff ist. Ob es soziologisch oder parteipolitisch verstanden werden soll. Beide Aspekte sind bis zu einem gewissen Grad ineinander verschmolzen. »Was, bitte sehr, ist bürgerlich?«, fragte seinerzeit – es ist nicht allzu lange her – der Kurier, als Ursula Stenzel, bis dahin eine Ikone der Bürgerlichkeit aufseiten der ÖVP, abrupt die Partei wechselte und von der Volkspartei zu den Freiheitlichen wanderte. Es war, wie nachher immer wieder festgestellt wurde, so etwas wie ein Racheakt. Der FPÖ war es gelungen, eine der wichtigsten Figuren des Wiener Bürgertums abzuwerben – deswegen, weil sie offenbar von der ÖVP nicht mehr gebraucht wurde.

Hat die Volkspartei darauf verzichtet, einen Großteil des bürgerlichen Wählerelements an sich zu fesseln? Bei den letzten Wiener Gemeinderatswahlen 2015 hat sie die ärgste Niederlage seit dem Zweiten Weltkrieg eingefahren. Sie errang 9,24 % der Stimmen. 2010 waren es noch 13,99 % gewesen. Freilich haben auch die Wiener Sozialdemokraten »abgebissen«, und zwar noch kräftiger, mit 39,59 % gegenüber 44,34 %. Zweitgrößte Partei waren bei den Gemeinderatswahlen 2015 die Freiheitlichen mit 30,79 %.

Immer wieder ergibt sich daher die Kernfrage: Was ist bürgerlich? Und neuerlich: Gibt es ein bürgerliches Lager, und wer stellt es dar? Ist es neuerdings die von vielen als zu weit rechts stehend bezeichnete FPÖ, oder ist es immer noch die ÖVP? Was ist bürgerlich, gesellschaftlich gesehen, und was versteht man politisch darunter?

Bleiben wir bei der Politik. Bleiben wir bei jenen politischen Gruppierungen, die sich als bürgerlich verstehen – was immer sie auch damit meinen. Aber weit gefehlt: Bürgerliche Parteien können nicht mit dem »bürgerlichen Lager« verwechselt werden. Bürgerliches Lager sind alle, die sich nicht zur politischen Linken zugehörig fühlen. Als bürgerlich verstehen sich zumeist konservative Parteien, christdemokratische Parteien, die meisten liberalen Parteien, teilweise christlichsoziale Parteien und teils sogenannte Bürgerblöcke, gelegentlich als Gegenspieler zur Sozialdemokratie. Mehrere Parteien führen die Bezeichnung »bürgerlich« sogar im Namen, so die Bürgerlich-Demokratische Partei in der Schweiz, die Rechtsstaatliche Bürgerpartei in Sachsen-Anhalt, zwei deutsche Kleinparteien und eine politische Gruppierung, die sich »Die Mündigen Bürger« nannte und sich vor allem an enttäuschte CSU-Wähler richtete.

Im Großen und Ganzen war, so hatte es den Anschein, das Urteil über die politische Kraft des Bürgerlichen längst gefällt: Es gibt sie nicht mehr, und zwar weder von rechts noch von links aus betrachtet. Man muss nicht dem erwähnten Falter beipflichten, den der Krone-Kolumnist Michael Jeannée permanent als »Bolschewistenblattl« bezeichnet, um der allgemeinen Verdammung der Konservativen (noch einmal: über den Unterschied wird noch zu sprechen sein) zuzustimmen. »Bürgerlich zu sein, ist kein Geburtsrecht der Konservativen mehr«, schrieb Julia Ortner seinerzeit in dieser sogenannten Stadtzeitung. »Definiert man Bürgertum über Bildung, sind heute schon die Grünen die bürgerlichste Partei, gefolgt von der ÖVP«, behauptet der Politologe Anton Pelinka, ein deutlich erkennbarer Linkssympathisant. Nur wenn es um das Bürgertum als Hort des Besitzes geht, hätten die Schwarzen noch die Führungsrolle.

Auf der rechten Seite ist der ebenfalls schon erwähnte Andreas Unterberger der Meinung, dass sich der bürgerliche Lebensstil nicht mehr aufrechterhalten lasse. Der Begriff »bürgerlich« hat eine Wandlung erlebt. Auch in der Politik habe die Bezeichnung einer Partei als »bürgerlich« keinen Inhalt mehr. Ein Gegensatz zu Bauernstand und Adel ist nicht mehr vorhanden: »Es fällt beispielsweise gar niemandem auf, dass es eigentlich ein Widerspruch in sich sein müsste, wenn ein seit einigen Jahren in Wien aufgeblühter ›Bürgersalon‹ ganz klar von Angehörigen einst wichtiger aristokratischer Familien geprägt ist, also von Familien, deren Vorfahren einst alles, nur nicht ›bürgerlich‹ waren«, schrieb Unterberger.

Sie lesen sich alle wie Todesanzeigen, die Zeitungsartikel, die sich mit dem Hinscheiden des bürgerlichen Elements in der Gesellschaft befassen. Bedauernd zum Teil, dann wieder spottend, mit einer Träne im Knopfloch und dann wieder voll der echten Trauer. »Wo ist das Bürgertum hinverschwunden?«, fragte sogar das Organ der Republik, die Wiener Zeitung, und gab auch gleich selbst die Antwort, natürlich nicht ohne Experten zu zitieren – was man eben Experten nennt. In dieser komplizierten Frage, die sich mit dem vermeintlichen Hinscheiden, dem augenscheinlichen Aussterben des Bürgertums befasst.

Vermeintlich, augenscheinlich. Dieses Buch behandelt genau dieses Thema: Gibt es jenes Element noch, das wir als »bürgerlich« bezeichnet haben? Ist es wirklich tot, ersetzt durch – ja, durch was eigentlich? Gibt es heute noch das Bürgerliche, wie man es früher verstanden hat? Was waren die Elemente des Bürgerlichen? Oder auch: Was verstand man darunter? Wie, wann, wo, auf welche Weise zeigten sie sich, diese Bestandteile einer Lebensart, die einen Teil (oder soll ich sagen: Großteil) jenes Stils bildeten, der im dritten Jahrtausend vielfach nicht mehr existiert?

»Das Bürgertum ist in Jahrhunderten gewachsen und viele, die diesem Stand angehörten, waren stolz darauf, sich vom Adel, dem Klerus, den Arbeitern und dem Bauernstand abzuheben«, schrieb Georg Markus im Spätsommer 2015 im Kurier. »Was, bitte sehr, ist bürgerlich?«, fragte er. »Frühstück im Landmann, dann hinüber ins Büro, mittags Tafelspitz im Sacher, abends zur Schnitzler-Premiere ins Burgtheater und schließlich mit Freunden in die Eden-Bar. Klarerweise von früh bis spät makellos gekleidet und frisiert. Das ist bürgerlich …« Eine Antwort auf die Feststellung des Bestsellerautors glaubte die Wiener Zeitung geben zu können. Auf ihre Erkundigung »Wo ist das Bürgertum hinverschwunden?« zitierte sie die Antworten des Meinungsforschers Rudolf Bretschneider und des ehemaligen Wiener ÖVP-Obmannes Bernhard Görg. Das »sogenannte Bürgertum«, sagte Bretschneider, »habe zunehmend seine Orientierung verloren«. Das sogenannte. Das impliziert den Zweifel, der längst zur Festlegung mutiert ist. Das Bürgertum ist nicht sogenannt – es existiert nicht mehr, soll es heißen. Und Görg ergänzt: »Der Begriff bürgerlich hat in den letzten 30 Jahren eine derartige Abwertung erfahren, dass es heute manche schon als Beleidigung empfinden«, meint er. »Man sei heute liberal oder progressiv – aber mit Sicherheit nicht mehr bürgerlich.«

Politische Todesurteile für einen Gesellschaftsteil, der im 19. und dann auch in einem Teil des 20. Jahrhunderts nicht unwesentlich bestimmend war in Europa? Zu einer Zeit freilich, da das sogenannte bürgerliche Element noch von anderen Gruppierungen bearbeitet wurde als heute, da glückliche und weniger glückliche politische Elemente dieselben Felder beackern. Die Frage, ob der in ganz Europa festzustellende Rechtsruck die Ursache dafür ist und ob er ein Zeichen beginnender ReVerbürgerlichung sei, soll an dieser Stelle nicht debattiert werden. Diese nämlich würde ein anderes Kapitel aufschlagen: jenes des Unterschieds zwischen »bürgerlich« und »konservativ«.

Ist es wahr, dass »bürgerlich« wirklich gelegentlich als Beleidigung aufgefasst wird, während sich niemand dagegen wehren würde, als »konservativ« bezeichnet zu werden? »Es gibt kein bürgerliches Lager«, behauptet Andreas Unterberger, der aus seiner konservativen Überzeugung nie ein Hehl gemacht hat und sie im Gegenteil immer wieder deklariert. »In Begriffen wie ›Lager‹ zu denken ist im heutigen Österreich ein grober Anachronismus.« Politische Lager von Relevanz habe es in der Zwischenkriegszeit gegeben. Damals hätten sich das christliche, das sozialistische und das deutschnationale wild gegenseitig bekämpft. Heute, so Unterberger, denke der größte Teil der Bevölkerung »nicht im Schlaf daran, sich einem ›Lager‹ zugehörig zu fühlen. Diesen Menschen ist die individuelle Freiheit viel zu wichtig, als dass sie einem Lager zugehören wollten.«

Ausnahmen bestätigen die Regel. Auch in der Politik. Auch in der Gesellschaft. Auch im Leben. Da kann doch eine politische Figur plötzlich das wechseln, was man früher hätte Lager nennen können – und alle Interessierten werden plötzlich zu einer Bestandsaufnahme eingeladen. Die erwähnte Ursula Stenzel, Ikone der Wiener ÖVP und prominenteste Bezirksvorsteherin der Bundeshauptstadt, die, wie gesagt, bis dahin fast als Symbolfigur des Bürgerlichen und des Bürgertums gegolten hatte, wandelte sich zum Beweis dafür, dass es nicht nur »schwarze«, sondern auch »blaue« Elemente gibt, die den Nachweis erbringen, dass die Frage »Wo ist das Bürgertum hinverschwunden?« leicht beantwortet werden kann.

Es ist nicht verschwunden, sondern es wird bis zu einem gewissen Grad neu entdeckt. Es wird in mancher Hinsicht neu erfunden. Der Entbürgerlichung folgt eine Re-Verbürgerlichung. Auch darüber wird in diesem Buch noch die Rede sein. Der Falter, diese sogenannte Wiener Stadtzeitung (noch einmal: es liegt mir fern, sie wie Michael Jeannée ein »Bolschewistenblattl« zu nennen), zitierte den Soziologen und Netzwerkforscher Harald Katzmair. Der behauptete, die Wiener Bürgerlichen (er nannte sie »Bourgeoisie«) seien »ängstlich und kleinmütig statt weltgewandt, offen und generös«. »Sie verwechseln«, sagte er, »den Konservatismus einer Ursula Stenzel mit Bürgerlichkeit.«

Da ist sie wieder, diese »Ikone« der Bürgerlichen, die freilich seither in Irmgard Griss eine bedeutende Konkurrenz erhalten hat. Die frühere Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, die bei den Bundespräsidentenwahlen 2016 antrat und um ein Haar in die Stichwahl gekommen wäre, hat Ursula Stenzel inzwischen weit in den Hintergrund gedrängt. Irmgard Griss hat freilich als neue Ikone nicht alle bürgerlichen Stimmen auf sich ziehen können. Aber immerhin hat sie gezeigt, dass hier eine Macht schlummert, die erweckt werden will. Eine Macht, die der Re-Verbürgerlichung harrt.

Wo also ist das Bürgertum hinverschwunden? Vielleicht unter die Fittiche der ehemaligen Höchstgerichtspräsidentin. Das, was Georg Markus unverblümt wissen will, bleibt allerdings nach wie vor: »Was, bitte sehr, ist bürgerlich?« Was ist eine bürgerliche Familie, was ein bürgerlicher Bezirk? Ist die Josefstadt die Umgebung, wo sich die Bürgerlichen »mitten im Achten« wohlfühlen? Ist das Theater in der Josefstadt der Inbegriff des Bürgerlichen geblieben? Gibt es heute noch einen bürgerlichen Lebensstil? Ein bürgerliches Haus? Und hat das Schicksal die Hand des Bomberpiloten gelenkt, der am 12. März 1945 fast alle Hochburgen des österreichischen Bürgertums vernichtete, die an der Ringstraße aufgereiht waren?

Das Bürgerliche ist nicht tot. Es harrt einer Re-Verbürgerlichung. Vor allem das ist der Inhalt dieses Buches.

Kapitel 3

Ich bin ein
Bildungsbürger