image

Hannelore Veit

image

David Kriegleder

USA

Stimmen aus einem
gespaltenen Land

image

Inhalt

Zu diesem Buch

Einleitung

Transatlantische Gedanken

STIMMEN AUS EINEM GESPALTENEN LAND

Der Revolutions-Führer

NEW YORK Eine Tour der etwas anderen Art durch den Big Apple

Der Konservative

NORTH DAKOTA Mit voller Überzeugung für Trump

Die Abtrünnigen

TEXAS Der Kampf um die Stimmen der christlich-evangelikalen Wähler

Der Realist

WASHINGTON, DC Der afroamerikanische Kampf gegen Rassismus

Die Kalifornierin

KALIFORNIEN Das Leben im etwas anderen Bundesstaat

Die Dreamer

KALIFORNIEN Aufgewachsen in den USA – aber nur geduldet

Der Außerirdische

NEVADA Schräge Begegnungen der dritten Art in der Wüste

Die Camper

MASSACHUSETTS Der Traum vom Leben am Highway

Die Süchtigen

VIRGINIAWEST VIRGINIANEW HAMPSHIRE Wie die Opioidkrise ländliche Gemeinden vergiftet

Die Business-Kids

VIRGINIAKALIFORNIENNEW YORK Wie Amerikas Nachwuchs zum Unternehmertum erzogen wird

Die Karrierefrau

WASHINGTON, DCCONNECTICUT Neu durchstarten mit 70

Die Aussteigerin

PUERTO RICO Umdenken nach dem Hurrikan – wie »Earthships« nachhaltiges Leben ermöglichen

Die Farmerin

MARYLAND Mit Regional und Bio aus der Corona-Krise

Der Extremist

VIRGINIA Wie die einflussreiche US-Waffenlobby ihren Kampf auf die Straße trägt

Die Nanny

WASHINGTON, DCSOUTH DAKOTA Studierende zwischen Bildungsschulden und Zukunftshoffnungen

Der Insider

WASHINGTON, DC Big John, der Journalist im Weißen Haus

Die Trumpette

FLORIDA Eine Society-Lady wirbt für Trump

Die Parteisoldatin

IOWA Wie die Demokraten um ihren Kandidaten und um Trump-Wähler ringen

Ein Land am Scheideweg

Verwendete und empfohlene Literatur

Zu diesem Buch

Die Pandemie hat alles auf den Kopf gestellt. Das gilt auch für dieses Buch, an dem wir seit über einem Jahr schreiben. Ein Buch über die Vereinigten Staaten, das schon mehrmals vor der Veröffentlichung stand, zuletzt als der Ausbruch der Corona-Krise plötzlich alle politischen und gesellschaftlichen Gewissheiten infrage stellte: der Lockdown, die Wirtschaftskrise, die für viele Europäer nur schwer nachvollziehbare, unbeholfene Reaktion der Regierung und der Gesellschaft auf das Virus. Es war nicht das erste Mal, dass aktuelle Ereignisse unseren Zeitplan durcheinanderbrachten. Ende 2019 standen wir kurz vor der Publikation, als der US-Kongress ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Donald Trump einleitete. Mit so viel Ungewissheit konnten wir nicht in Druck gehen. Und nun, während wir diese Zeilen schreiben, haben landesweite Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus das Land in neue Unsicherheit gestürzt. Wieder mussten wir Kapitel umschreiben, neu schreiben oder auf den neuesten Stand bringen.

Wie schreiben über ein Land, das seit vier Jahren kontinuierlich von einer Krise in die nächste zu schlittern scheint? Wie in Buchform berichten über eine Nation, deren tagesaktuelle Entwicklungen so rasant vorbeirasen, dass sie selbst dem hyperaufmerksamen und geschulten Journalisten und Medien-Junkie regelmäßig Schwindel bereiten?

Diese Frage stand am Anfang unseres Buchprojekts. Es sollte kein Buch über den US-Präsidenten werden, der mit oft bizarren Auftritten, mit seinen medialen Inszenierungen und seinen autoritären Instinkten ohnehin seit vier Jahren täglich die nationale und internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ebenso wenig wollten wir ein Buch über den Wandel der amerikanischen Außenpolitik schreiben, wenngleich uns Europäer dieser Aspekt am meisten betrifft und vor den Kopf stößt. Stattdessen wollten wir Amerikaner ins Zentrum unseres Buches stellen und die Menschen selbst zu Wort kommen lassen: US-Bürger aus allen Gesellschaftsschichten und Landesteilen, die wir im Zuge unserer vielen Reportagereisen als ORF-Korrespondenten getroffen haben. Wir wollten »Stimmen aus einem gespaltenen Land« wiedergeben.

Es sind Porträts, die das vielfältige und einzigartige Gesellschaftsmosaik der USA widerspiegeln, das wir in den vielen Jahren unserer US-Aufenthalte kennengelernt, erlebt und lieben gelernt haben. Charaktere und Lebensgeschichten, die vom unbeugsamen Pioniergeist, Tatendrang und Individualismus zeugen, die dieses Land groß gemacht haben. Menschen, deren tägliche Herausforderungen, Hoffnungen und Ängste die gesellschaftliche Wirklichkeit dieses komplexen Landes abbilden.

Religion, Rassismus, Revolutionssehnsüchte, Waffenbesitz, UFOs, Glamour, Drogensucht, Einwandererträume und Klimawandel – das sind nur einige der Themen, die wir mit der Auswahl unserer Buch-Charaktere mit Leben erfüllen wollen. Wir wollen ihre Geschichten erzählen, um sie dem Leser näherzubringen. Wir hoffen, damit zum besseren Verständnis der USA beizutragen, abseits der Schlagzeilen des 24-Stunden-Nachrichtenzyklus, denen wir als Journalisten sonst im Alltag hinterherhechten.

Zugleich haben wir Menschen porträtiert, deren Leben die tiefen Missstände und sozialen Verwerfungen zum Ausdruck bringen, die sich in den letzten Jahrzehnten weiter verschärft haben – oder, wie David es noch drastischer ausdrücken würde: die USA an den Rand des Abgrunds gedrängt haben. Die extreme Polarisierung, das Misstrauen zwischen Jung und Alt, Stadt und Land, Arm und Reich, zwischen links, rechts und dem Zentrum des politischen Spektrums – all das spiegelt sich in den Kapiteln unseres Buches wider. Ebenso die zunehmend abgeschotteten Wahrnehmungsblasen, in denen sich die unterschiedlichen Gesellschaftsteile bewegen. Unversöhnlich prallen diese Parallelwelten derzeit aufeinander. Ein Hauch von 1968 liegt in der Luft, vielleicht auch 1972. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.

Hannelore Veit und David Kriegleder

Washington, im Juni 2020

Einleitung

Transatlantische Gedanken, Teil 1

David Kriegleder

Kapuzenpullover am Haupt, Latexhandschuhe an den Fingern, N95-Atemschutzmaske im Gesicht. So sitze ich regungslos auf meinem Fensterplatz, etwa 12 000 Meter über dem Meeresspiegel. Aus meinen Kopfhörern tönt der Bass von elektronischer Musik, der sich mit dem dumpfen Dröhnen der Boeing-787-Passagiermaschine vermischt. Unter uns zieht glitzernd der Atlantische Ozean vorbei. So weit wie dieser Tage kam er mir noch nie vor. Und die Reise aus Europa in die Neue Welt selten so lang.

Ich bin auf dem Weg zurück in die USA, jenes Land, das ich seit zwei Jahren mein Zuhause nennen darf. Ein Land, in dem ich schon Teile meiner Kindheit, Jugend- und Studentenjahre verbracht habe und das mich trotz aller Ambivalenz, die ich empfinde, immer wieder zu sich ruft. Auch inmitten der Corona-Krise. Unser Flieger ist in diesen Zeiten der geschlossenen Grenzen nur zu einem Drittel gefüllt – Social Distancing fällt da nicht schwer. Mit an Bord: US-amerikanische Rückkehrer, Diplomaten, gereiztes Flugpersonal in Schutzkleidung.

Dass ich während der Pandemie meine Familie in Österreich besuchen und danach in die USA zurückkehren kann, verdanke ich der österreichischen Botschaft in Washington. Sie hat mit viel Geschick eine spezielle Wiedereinreise-Genehmigung für Journalisten organisiert, eine Ausnahmeregelung für den vom Weißen Haus verhängten Corona-Reisebann für Schengen-Bürger. Viele andere internationale Korrespondenten haben dieses Glück nicht gehabt.

Die USA waren für mich stets so etwas wie eine zweite Heimat – ein Ort, den ich mit vielen positiven Erlebnissen, Erinnerungen und Menschen verbinde. Aber so richtig willkommen fühle ich mich hier in letzter Zeit nicht mehr. Während ich an Bord meines Fluges das Zollformular ausfülle, stelle ich mich im Kopf bereits auf die langwierige und peinliche Befragung durch die US-Einwanderungsbehörden ein, die schon zum Fixritual bei meinen Einreisen geworden ist. Journalisten, einheimische und ausländische, werden im Land der Pressefreiheit immer öfter als Störenfriede behandelt. »Gibt es in Österreich nicht genug zu berichten, dass Sie hierherkommen müssen?«, hat mich ein US-Grenzbeamter schon einmal forsch gefragt.

Die offene, herzliche und unbekümmerte Landesmentalität der USA, die ich so schätze, ist in den vergangenen 20 Jahren spürbar einer tiefen Verunsicherung und Verbitterung gewichen, das merke ich auch in Gesprächen mit amerikanischen Freunden und den Porträtierten in diesem Buch. Was sagt man in Europa zu unserem Chaos? Wieso funktionieren gewisse Dinge bei euch und bei uns nicht? Ist in Österreich wirklich jeder krankenversichert? Es sind Fragen, die von der tiefen Identitätskrise zeugen, in der dieses Land steckt – der unbeugsame Fortschrittsglaube seiner Menschen hat schweren Schaden erlitten. Das gesellschaftliche Fundament der USA erlebe ich zunehmend als ausgehöhlt, wie eine leere Simulation seiner selbst. Es ist ein Land, in dem mittlerweile weder der Staat noch der Markt wirklich funktionieren. Und die Amerikaner scheinen es zu spüren: »In Bezug auf unsere politischen und sozialen Institutionen kann ich mir nicht verkneifen, zu denken: Lasst sie doch alle brennen« – dieser Aussage schließen sich laut der viel beachteten politikwissenschaftlichen Studie »A Need for Chaos« (Petersen, Osmundsen & Arceneaux, 2018) ganze 40 Prozent der befragten US-Bürger an. Laut Gallup-Umfrage haben 59 Prozent der Amerikaner kein Vertrauen mehr in ihre Demokratie und die Fairness ihrer Wahlen. Über 60 Prozent sind der Meinung, das Land sei auf dem falschen Weg.

Die Corona-Krise hat die sozialen Missstände und internen Spannungen noch einmal verstärkt und die gesellschaftlichen Vorerkrankungen des Patienten USA gnadenlos offengelegt. Es ist nicht das erste Mal, dass die USA mit einer Pandemie ringen, nicht das erste Mal, dass das Land eine schwere Wirtschaftskrise erlebt. Und nicht das erste Mal, dass der US-Kongress versucht hat, einen US-Präsidenten des Amtes zu entheben. Doch noch nie fand all das im selben Jahr statt, noch dazu in einem Wahljahr. Politische Beobachter in den USA sprechen daher immer öfter von ernsthaften Anzeichen und Symptomen eines gescheiterten Staates. Das amerikanische Selbstverständnis ist jedenfalls infrage gestellt und mit ihm die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs etablierte internationale Staatenordnung. Die Vereinigten Staaten sind mit sich selbst beschäftigt und ziehen sich international zurück. Zwischen Europa und Washington sind tiefe Gräben entstanden, nicht erst seit der nationalistischen »America First«-Politik Donald Trumps. Man ist sich fremd geworden diesseits und jenseits des Atlantiks.

Es sind Entwicklungen, die mich nachdenklich stimmen. Als unsere Boeing-Maschine zum Landeanflug ansetzt, überkommt mich eine tiefe Melancholie. Wir gleiten am Potomac-Fluss entlang, Washingtons Innenstadt zieht am Fenster vorbei: die Gedenkstätten historischer Präsidenten, steinerne Mahnmale aus besseren Zeiten; das Weiße Haus, das dieser Tage mehr denn je einer verbarrikadierten Festung gleicht; der überfüllte Soldatenfriedhof Arlington, Zeugnis eines wankenden Imperiums. Ich habe Transatlantikflüge in die USA lange als magisch empfunden – als Reisen, die über die Überwindung von räumlicher Distanz hinausgehen. Gleich einer Zeitmaschine, bei der jedes Mal unklar ist, ob sie in Richtung Zukunft oder in Richtung Vergangenheit steuert. Oder überhaupt in ein Paralleluniversum, vertraut und gleichzeitig fremd. Vieles hat sich verändert in diesem Land – manches davon offensichtlich, manches subtil. Ach Amerika, wie sehr ich dich noch immer bewundere und gleichzeitig bedaure.

Transatlantische Gedanken, Teil 2

Hannelore Veit

Es sind erste Eindrücke, die prägen. Meine ersten Eindrücke der USA gehen auf die 1980er Jahre zurück. Als junge Fulbright-Studentin kam ich hierher, es war ein unglaubliches Gefühl der Freiheit, der Weite, des Willkommen-Seins in diesem Land. Ich hatte das Gefühl, mit offenen Armen aufgenommen zu werden. Die Menschen hier wollten zeigen, was für ein demokratisches, weltoffenes und großartiges Land sie sind. Viele der Menschen, die ich als Studentin kennengelernt habe, zähle ich auch heute noch zu meinen Freunden.

30 Jahre später kam ich als Korrespondentin zurück in ein Land, das sich total verändert hatte, ein Land, in dem ich mich als Ausländerin, auch als Europäerin, nicht mehr uneingeschränkt willkommen fühle. Der 11. September 2001 hat dieses Land verändert. Nach mehr als zehn Jahren Krieg in Afghanistan und im Irak haben die USA das Interesse am Rest der Welt verloren. Die Haupt-Nachrichten: local news. Mit Donald Trump im Weißen Haus hat sich das alles noch drastisch verschärft. America First – der Rest der Welt zählt nicht. Und im Inneren ist die Kluft so tief geworden, dass ein Dialog nicht mehr möglich scheint. Die, die versuchen zu vermitteln, die einen Kompromiss suchen, werden nicht gehört, weder in der Politik noch in der Gesellschaft. Republikaner und Demokraten können schon längst nicht mehr miteinander. Es geht um Machtspiele in Washington – um nichts sonst. Trump-Anhänger leben in ihrer eigenen Welt, sehen Donald Trump, wie es eine meiner Interviewpartnerinnen sagte, als einen, der »den Sumpf trockenlegen wollte, aber nicht gewusst hat, wie viele Alligatoren in diesem Sumpf leben«. Trump-Gegner können es nicht fassen, dass dieser Egozentriker, der andere anpöbelt, aber selbst nicht die geringste Kritik verträgt und beratungsresistent ist, das Amt des Präsidenten innehat, ein Amt, um das in Zeiten vor Donald Trump immer ein Hauch von Ehrfurcht geweht hat. Jeder lebt in einer Blase, holt sich die Informationen dort, wo er oder sie sicher sein kann, dass sie die eigene Meinung widerspiegeln. Niemand will Argumente dafür und dagegen hören. Der Präsident macht es vor: Desinformation wird so oft wiederholt, bis sie salonfähig ist.

Ich versuche in meinen Kapiteln des Buches, Amerikaner zu Wort kommen zu lassen und möglichst wenig zu werten – auch wenn es, das muss ich zugeben, manchmal schwerfällt.

Die USA sind heute ein tief gespaltenes Land. Und doch erlebe ich immer wieder, wie das Amerika aufblitzt, das ich aus meiner Studentenzeit in Erinnerung habe. Es ist immer noch das Land der Weite, der Freiheit und der freien Meinungsäußerung, ein Land, das gerade im Frühsommer 2020 mit der Protestwelle gegen Rassismus eine intensive Phase der Konfrontation mit der eigenen Geschichte durchlebt. Eine Phase, aus der dieses Land, und da teile ich die Meinung meines afroamerikanischen Gesprächspartners Doug im Kapitel »Der Realist«, lernen und hoffentlich gestärkt hervorgehen wird. Die USA sind eine stabile Demokratie mit gut verankerten Kontrollen der Macht, auch der Macht des Präsidenten: Die »checks and balances«, die in der Verfassung festgelegt sind, garantieren, dass der Kongress, der Präsident und die Gerichte einander kontrollieren. Bis jetzt haben sie funktioniert – der Präsident, der am liebsten allein regieren würde, wird gebremst vom Kongress und von den Gerichten.

Wir kritisieren die USA oft und heftig, weil wir das können – weil Kritiker nicht im Gefängnis landen oder »verschwinden«, weil ich als ausländische Journalistin nicht damit rechnen muss, Repressalien ausgesetzt zu sein. Es sind nach wie vor gemeinsame Werte, die die USA und Europa verbinden.

Die meisten Gesprächspartner, die ich getroffen habe (zugegeben nicht alle), mag ich einfach persönlich, ob ich ihre politische Einstellung jetzt goutiere oder nicht. Willkommen habe ich mich bei der konservativen Familie in Fargo genauso gefühlt wie bei der Anything-But-Trump-Universitätslektorin in Kalifornien. Ich kenne Freundschaften zwischen Trump-Gegnern und Trump-Unterstützern, die weiter bestehen, weil beide Seiten gelernt haben, das Thema Trump auszuklammern.

Mag sein, dass hier die unverbesserliche Optimistin in mir spricht, aber ich habe in all den Jahren, die ich hier gelebt habe, so viele Aspekte dieses Landes kennengelernt, dass ich aus voller Überzeugung sagen kann: Trotz aller Kritik, die ich übe, liebe ich dieses Land. Wie es ein amerikanischer Freund ausdrückt: Das schönste an diesem Land ist seine Fähigkeit, sich nach dunklen Kapiteln der Geschichte neu zu finden.

STIMMEN AUS EINEM GESPALTENEN LAND

Der Revolutions-Führer

Eine Tour der etwas anderen Art durch den Big Apple

New York image David Kriegleder

»Herzlich willkommen in New York City! Eines gleich vorweg: Das hier ist nicht Disneyland – hier wird nichts schöngeredet, wir nennen die Dinge beim Namen – the Good, the Bad and the Ugly.« Michael Pellagattis Blick wandert selbstbewusst über das Dach des offenen Doppeldecker-Busses. Alle Sitzplätze sind belegt, er wirkt zufrieden – es ist Hochsaison, noch vor der Corona-Krise, und seine heutigen Gäste, internationale Besucher und US-Amerikaner, lauschen den Worten des 32-jährigen Touristenführers aufmerksam. »Ich bin New Yorker der fünften Generation und kenne diese Stadt wie meine Westentasche«, fügt Pellagatti mit kantigem New Yorker Akzent hinzu. Er trägt ein schwarzes Barrett und eine verspiegelte Sonnenbrille – in der linken Hand hält er einen ausziehbaren Teleskopstock, den rechten Arm zieren mehrere Tätowierungen.

Der rote »Hop on Hop off«-Bus setzt sich in Bewegung, manövriert im Schritttempo durch den zähen New Yorker Morgenverkehr rund um den berühmten Times Square. Gigantische Leuchtreklamen flackern von den Gebäudefassaden. Grelle Bildschirme wetteifern um die Aufmerksamkeit der Passanten – werben für Broadway-Musicals, Sportschuhe und Aftershave. Ein buntes Kaleidoskop, nein, Stroboskop spätkapitalistischer Ekstase. Im Hintergrund das Hupen genervter Pendler, begleitet vom Dröhnen mehrerer Presslufthämmer, ein Fußgänger schimpft lautstark auf einen vorbeisausenden Radfahrer. »Ahh, hört ihr das? Bei dieser Geräuschkulisse wird mir gleich ganz warm ums Herz«, sagt Pellagatti – »das ist die wahre Symphonie New Yorks, vergesst die noblen Orchester. Darum reden wir New Yorker auch so laut, sonst hört uns keiner, vielleicht sind wir deswegen alle ein bisschen neurotisch!«

Pellagatti trinkt aus seiner Wasserflasche, atmet kurz durch und widmet sich sofort wieder mit vollem Elan seinen Tour-Gästen. Er ist ein wandelndes Lexikon der Stadt – kaum ein Straßenblock, den er nicht mit einer historischen Anekdote kommentiert.

»In diesem Gebäude ist Nikola Tesla gestorben … und in dieser Nachbarschaft wurde Präsident Franklin D. Roosevelt geboren … Und hier haben sich die irischen Hafenarbeiter angesiedelt, nachdem man sie vom alten Dock am East River vertrieben hatte.«

Der Bus biegt in die 34. Straße ein. »Hier zu meiner Linken sehen sie Macy’s, eines der größten Kaufhäuser der Welt«, erzählt der junge Guide, »das Gebäude soll demnächst zu einem Wolkenkratzer umgebaut werden, die Amazon-Konkurrenz setzt ihnen offenbar ziemlich zu …«

»… Zu meiner Rechten befindet sich das berühmte Empire State Building, wussten Sie, dass es ursprünglich als Zeppelin-Landeplatz konzipiert war?«

»… Und hier in dieser Kirche hat Trump seine Melania geheiratet – the GREATEST wedding ever«, ergänzt er mit einer gekonnten Stimm-Imitation des US-Präsidenten.

Die Occupy-Wall-Street-Tour

Michael Pellagatti ist seit sechs Jahren als Touristenführer in Manhattan tätig. Zwei bis drei solcher Bus-Rundfahrten absolviert er pro Tag, 17 Dollar beträgt der Stundenlohn. »Kein Vermögen, aber ich bin krankenversichert, das ist das Wichtigste.« Nebenbei jobbt er als freischaffender Pressefotograf. Doch Michaels Herzblut steckt in einem anderen Projekt, seiner sogenannten Occupy-Wall-Street-Tour. Bei dieser Spezialführung habe ich ihn 2016 kennengelernt und für eine ORF-Sondersendung zur Wahlnacht interviewt. Thema des damaligen Beitrags war die Frage, wie die junge Generation der unter 35-Jährigen, manchmal auch »Millennials« genannt, politisch tickt. Eine Frage, die untrennbar mit einer Protestbewegung verknüpft ist, die hier in New York City im Jahr 2011 ihren Ausgang genommen hat.

»Occupy Wall Street war so etwas wie die politische Geburtsstunde meiner Generation«, erzählte mir Michael Pellagatti bei unserem ersten Treffen. Er selbst stand im September 2011 an vorderster Front, als Tausende junge Menschen einen Straßenblock rund um die New Yorker Börse mit Zelten besetzt hielten, ein Protest gegen die Nachwehen des 2008 kollabierten Finanzsystems, gegen die Gier der großen Investmentbanken, gegen die Untätigkeit der Politik. Nach knapp zwei Monaten wurde das Protestcamp schließlich recht brutal geräumt – noch heute hat Pellagatti Videos auf seinem Mobiltelefon, die zeigen, wie die weitgehend friedlichen Demonstranten von übereifrigen Polizisten mit Pfefferspray eingekesselt wurden.

»Präsident Obama hat die Räumung des Protestcamps damals zugelassen – für uns ist er damit gestorben und damit auch die Hoffnung, dass sich dieses System durch Wahlen ändern lässt.«

Die Protestbewegung sei zwar mit ihren Zielen und Forderungen gescheitert, aber sie habe damals die Büchse der Pandora geöffnet und landesweit viele weitere Protest- und Bürgerrechtsbewegungen inspiriert, sagt Pellagatti. »Für mich wurde damals klar, dass ich mich politisch und vor allem aktivistisch engagieren muss – ich habe mein überteuertes und nutzloses Studium abgebrochen und mich mit Gleichgesinnten vernetzt. Ich habe mir damals unzählige Bücher gekauft und begonnen, die sozialrevolutionäre Geschichte meiner Heimatstadt zu studieren.«

Mit seiner Occupy-Wall-Street-Tour will der junge New Yorker den Geist der Protestbewegung am Leben erhalten und interessierten Besuchern aus aller Welt vermitteln – zuletzt etwa einer Studentengruppe aus dem deutschen Münster.

»Ich habe auch schon Schulklassen bei meiner Tour begrüßt, einige Schüler haben mir dann ein paar Wochen später geschrieben, dass sie nach meiner Tour zum ersten Mal selbst an einer Demonstration teilgenommen haben – das war ein echtes Erfolgserlebnis.«

Die Tourismusbranche sei ein idealer Ort für politischen Aktivismus, eine Sphäre, in der sozialrevolutionäre Theorie und Geschichte unterhaltsam und gleichzeitig bewusstseinsbildend vermittelt werden könne, so Pellagatti. »Und bei den Tour-Gästen kommt mein Stil überraschend gut an, den touristischen Einheitsbrei kann man ja ohnehin woanders nachlesen.«

Der rote Tour-Bus fährt an den Hudson Yards vorbei – einem kürzlich aus dem Boden gestampften und neu eröffneten Luxus-Stadtviertel entlang der 11th Avenue. Mehrere gläserne Wolkenkratzer beheimaten dort Nobelapartments – darunter befindet sich ein riesiges, steriles Einkaufszentrum mit Boutiquen namhafter Marken. Vor dem Eingang ragt eine etwas bizarr anmutende Kunstskulptur in den Himmel, das sogenannte »Vessel«. Sie besteht aus über 150 ineinander verzahnten und protzig verkupferten Treppenaufgängen, die, auf 16 Stockwerke gestapelt, Besucher zum kostenpflichtigen Erklimmen anregen sollen und vom Kritiker der »New York Times« spöttisch als »mistkübelförmiges Treppenhaus ins Nichts« bezeichnet wurde.

Der gesamte Hudson-Yards-Gebäudekomplex wird nach seiner Fertigstellung über 20 Milliarden Dollar gekostet haben – das teuerste privat finanzierte Immobilienprojekt der US-Geschichte. Viele New Yorker sehen darin aber vor allem eine architektonische Sünde und einen weiteren öffentlichen Ort, der alles bietet außer Sitzbänken und somit zum Konsum zwingt, statt zum Verweilen einzuladen.

»Hier sehen Sie eine weitere Oase der Superreichen«, richtet sich Mike Pellagatti an seine Tour-Gäste, ohne seine Abneigung gegenüber dem neuen Stadtviertel zu verbergen. »Ein weiterer Ort, an dem Menschen mit zu viel Einkommen ihr Geld in irgendwelchen gläsernen Wolkenkratzern anlegen können – ja, von denen haben wir hier in New York wahrlich mehr als genug.«

Die US-Immobilienbranche sei seiner Meinung nach überhaupt der größte Killer der US-Mittelklasse, erzählt mir Mike anschließend im Interview, »sogar noch schlimmer als die Finanzbranche«. Wundere es irgendjemanden, dass ausgerechnet ein Bauherr und Immobilienhai aus New York im Weißen Haus sitzt?

Stadt des Widerstands, Stadt der Armut

Pellagattis Ausführungen verdeutlichen: New York City besitzt in den Vereinigten Staaten der Gegenwart eine interessante Doppelrolle. Die Metropole ist die ehemalige Heimatstadt Donald Trumps – das Biotop, in dem er zum Baumogul aufgestiegen ist. Gleichzeitig verkörpert die Stadt die absolute Antithese zu Trumps Amerika. Das multikulturelle und bunte New York ist eine Hochburg der Demokraten. Hillary Clinton war Senatorin des Bundesstaates New York, ehe sie gegen Trump ins Rennen ging und den Kürzeren zog.

Mike Pellagatti hat bei den Vorwahlen 2016 den demokratischen Sozialisten Bernie Sanders unterstützt, der seiner Konkurrentin Clinton nur knapp unterlag. Sanders ist zum Zeitpunkt unseres Treffens erneut im Rennen um das Weiße Haus, doch der junge New Yorker bezweifelt, dass ihn die Demokraten wirklich zu ihrem Kandidaten nominieren werden. »Das ist doch alles geschoben: Unser politischer Prozess ist mittlerweile eine einzige Reality Show und deswegen hat Trump gute Karten, wiedergewählt zu werden. Ich denke, die aufrichtigen Demokraten werden es schwer haben, mit Inhalten durchzukommen, und ich befürchte, dass die Dinge zuerst noch viel schlechter werden müssen, ehe sie wieder besser werden. Wer weiß, vielleicht steht der nächste Finanzcrash schon vor der Tür?«

Der Tour-Bus fährt weiter und erreicht den Stadtteil Greenwich Village – Pellagatti setzt seine revolutionär angehauchte Stadtführung fort.

»Zu unserer Linken befindet sich jener Straßenblock, in dem in den 1960er Jahren die berühmten Stonewall-Proteste stattfanden, die sich heuer zum 50. Mal jähren. Hier haben sich Homo- und Transsexuelle im Kampf um Bürgerrechte Straßenschlachten mit der New Yorker Polizei geliefert …«

»… Und an dieser Ecke haben New Yorks Straßenmusiker vor mehreren Jahrzehnten das Recht erkämpft, ohne Genehmigung allerorts spielen zu dürfen – dieses Recht gilt bis heute. Sehen Sie, in diesem Land wird einem nichts geschenkt, alles muss erkämpft werden – glauben Sie mir, ich bin der Sohn italienischer Einwanderer und weiß, wovon ich spreche …«

»… Ach ja, und bevor ich’s vergesse, an dieser Ecke hier kriegt ihr die besten Mac and Cheese der ganzen Stadt!«

Die aktuelle Situation der Stadt erinnere ihn frappant an die historischen Schilderungen über das New York der 1920er Jahre, sagt Pellagatti. Die Wirtschaft boome, die Reichen werfen mit Geld um sich, aber ein Großteil der Bewohner bleibe auf der Strecke. »Ich habe noch nie so viele Obdachlose gesehen wie jetzt …« Einige von ihnen würden in der Nacht auf der Straße schlafen und tagsüber in der Stadt arbeiten gehen – denn die Mieten seien dermaßen in die Höhe geschossen, dass sich auch viele berufstätige Menschen kaum noch ein würdiges Wohnen leisten können. Das Gleiche gelte für die Lebensmittelpreise, »und dann spüren wir auch noch die Auswirkungen von Trumps Zöllen auf chinesische Importprodukte.«

Viele seiner Freunde seien in den vergangenen Jahren aus New York City weggezogen, weil sie sich das Leben hier nicht mehr leisten können, erzählt Pellagatti, »aber sie können es sich ebenso wenig leisten, zu weit weg zu ziehen, denn die Jobs sind alle in der Stadt – eine echte Zwickmühle.«

Auch er selbst sei vor Kurzem wieder zurück in die Wohnung seines Vaters im angrenzenden New Jersey gezogen, um Geld zu sparen – denn sein Touristenbus-Unternehmen könne ihm nicht immer genug Arbeitsstunden garantieren. Mikes zwei jüngere Brüder leben noch im Apartment ihrer Mutter. »Unsere Elterngeneration hat zumindest noch fixe Jobs, meine Mom arbeitet seit Jahrzehnten beim selben Arbeitgeber, einer amerikanischen Airline – von so viel Beständigkeit kann meine Generation nur träumen, wir werden mit der Gig-Economy, der Vergabe von Mini-Aufträgen, verarscht.«

Der Traum von Hawaii und die harte Wirklichkeit in New York

Pellagatti wollte sich angesichts so großer wirtschaftlicher Unsicherheit eigentlich ein zweites Standbein aufbauen – als saisonaler Touristenführer auf den US-amerikanischen Pazifikinseln Hawaii. Er habe dort über sein Occupy Wall Street Aktivisten-Netzwerk Kontakte geknüpft und die Hauptinsel Oahu mehrmals besucht. »Viele Leute sagen, wir fliegen nach Hawaii, wir gehen ins Paradies – Strand, Piña Colada, Hula-Mädchen mit Blumenkränzen –, aber das entspricht nicht der Realität: Der Bundesstaat hat das größte Obdachlosen-Problem im ganzen Land.« Und die Tourismusbranche dort verschleiere die Probleme, weswegen er gerne eine alternative Hawaii-Tour auf die Beine gestellt hätte. Doch die strengen Regulierungen und die Bürokratie Hawaiis hätten diesen Plan vorerst zunichte gemacht. »So bleibt mir nichts anderes übrig, als die sozialen Bewegungen Hawaiis hier aus der Ferne zu unterstützen – demnächst gibt es in New York eine große Demonstration gegen den geplanten Bau eines Teleskops auf dem Land der hawaiianischen Ureinwohner, da werde ich sicher mitmarschieren«, so Pellagatti. In Planung sei auch ein Aktivistentreffen rund um bleiverseuchtes Trinkwasser in der nahe gelegenen Stadt Newark.

Der rote Doppeldecker-Bus passiert den ehemaligen Standort des World Trade Center, das am 11. September 2001 durch Terrorangriffe zerstört wurde. Ein kollektives Trauma, das das Land und die Stadt bis heute nicht ganz überwunden haben. Ein stimmiges Mahnmal erinnert an die Opfer des Anschlags – daneben ragt das neue One World Trade Center über 500 Meter in den Himmel. Der Bus hat die Südspitze Manhattans erreicht und biegt in die Wall Street ein, das Herz des Finanzdistrikts und Sitz der US-Börse. Einige Tour-Gäste steigen aus, um ein Selfie mit der berühmten Charging-Bull-Statue zu bekommen. Diese Skulptur eines Stiers war ursprünglich als befristetes Street-Art-Projekt konzipiert und wurde erst danach zu einer permanenten Installation – »ein Symbol für die Marktgläubigkeit dieser Stadt«, erzählt Tour-Guide Pellagatti den verbleibenden Passagieren mit einem unüberhörbaren Seufzer. Der rote Bus rollt zur letzten Station weiter, Pellagatti bedankt sich für die Aufmerksamkeit und sammelt Trinkgeld ein. Ein Senioren-Paar aus Kalifornien bedankt sich für die Tour, »toll, dass Sie die Dinge beim Namen nennen«, sagt die ältere Dame, während sie Mike einen 20-Dollar-Schein zusteckt. »Falls Sie noch Zeit haben, würde ich Ihnen einen Spaziergang zum nahe gelegenen Zuccotti-Park ans Herz legen«, erwidert der junge New Yorker. »Dort hat die Occupy-Wall-Street-Bewegung ihren Anfang genommen, die 99 Prozent der Bevölkerung haben begonnen, gegen das eine Prozent der Superreichen zu kämpfen – ein Kampf, der bis heute andauert und uns alle betrifft.«

Im Juni 2020 erreiche ich Mike nach mehreren erfolglosen Versuchen am Telefon. Seine Lebensumstände haben sich seit unserer gemeinsamen Stadtrundfahrt deutlich verschlechtert: Die Corona-Krise hat New York City besonders hart getroffen, der Tourismus ist zusammengebrochen, Pellagatti hat seinen Tour-Guide-Job verloren. Er arbeitet jetzt aushilfsweise in einem Kaufhaus in New Jersey und erzählt mir, wie unglücklich er über den verordneten Corona-Shutdown der Stadt ist. Die Quarantäne-Maßnahmen hält er für übertrieben. Mike schildert, wie er in eine tiefe Depression gestürzt ist, aus der er sich gerade erst langsam und mit Hilfe von Therapie befreit. Derzeit bereite er sein Comeback als alternativer Touristenführer vor – die Stadt New Orleans reize ihn dabei besonders. Mike Pellagatti unterstützt die landesweiten Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus, die sich auch auf den Straßen des Big Apple abspielen. »Vielleicht sind sie ein weiterer Schritt hin zu einer größeren sozialen Revolte, die unser verrottetes System wegfegt«, sagt der junge New Yorker.

Der Konservative

Mit voller Überzeugung für Trump

Fargo, North Dakota image Hannelore Veit

Fargo – das ist der Name einer Stadt, der sofort ein Bild im Kopf entstehen lässt: karge Landschaft, kalt, unwirtlich. Wer immer den Filmklassiker der Coen-Brüder aus dem Jahr 1996 gesehen hat, wird ähnliche Eindrücke mitgenommen haben.

Ich plane eine Reportage über eine Familie, die Trump gewählt hat und zu Trump steht, aber nicht in das übliche Klischee der ungebildeten, selbstgefälligen und grölenden Trump-Anhänger fällt, die seine populistischen Ideen unreflektiert aufnehmen und die wir in den Medien so gerne als die Wählerbasis Trumps beschreiben. Fast die Hälfte der Amerikaner hat Trump 2016 gewählt. Mit seinen Stammwählern allein hätte Trump die Wahl nie gewinnen können.

Fargo, der Name fällt in einer Besprechung mit meiner Producerin Lauren. Sie hat dort eine Familie gefunden, die bereit ist, mit mir zu reden. Ich bin sofort Feuer und Flamme. Fargo wollte ich immer schon sehen.

Es ist März, als ich dorthin reise. Direktflüge gibt es keine. Anstatt in Minneapolis, einem großen Drehkreuz im Mittleren Westen, in einen Anschlussflug nach Fargo umzusteigen, beschließe ich, mit meinem Kameramann Markus ein Mietauto zu nehmen und quer durch Minnesota nach North Dakota zu fahren. Nicht nur, weil Fliegen umständlich und langweilig ist, sondern auch, weil ich so ein Gefühl für die unendliche Weite des Mittleren Westens bekomme. Vier Autostunden sind es bis Fargo, quer durch das Land der 10 000 Seen, wie Minnesota genannt wird. Die Landschaft verändert sich kaum, ein paar Hügel, flaches Land, so weit der Blick reicht. Selbst im März sind die Teiche hier im Norden noch zugefroren.

Der eiskalte, aber sonnige Märztag neigt sich dem Ende zu, als wir Fargo erreichen. Fast baumlos ist die Ebene rund um die Stadt, der kalte Wind raubt einem den Atem. Und doch: Fargo ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Gar nicht düster, kein gottverlassener Winkel, wie es der Film suggeriert. Fargo liegt am Red River, ist mit 120 000 Einwohnern die größte Stadt im dünn besiedelten North Dakota und hat ein hübsches Art-Déco-Zentrum, das mit seinen roten Backsteinfassaden erkennen lässt, dass sie schon sehr westlich liegt. Cowboy-Romantik schimmert durch. Fargo ist eine junge Stadt, das Durchschnittsalter der Bevölkerung beträgt 30 Jahre. Fargo bietet das, was viele andere Städte nicht haben: eine niedrige Kriminalitätsrate, kaum Arbeitslosigkeit und leistbare Wohnungen. Sie ist eine der lebenswertesten Kleinstädte der USA.

»Welcome, and please feel at home here.« John Trandem öffnet die Tür zu seinem Einfamilienhaus am Rande der Stadt. Mit seiner Frau Lydia und ihren drei kleinen Kindern lebt John in dem für europäische Verhältnisse geräumigen, neu gebauten Haus, vier Garagen lassen erahnen, dass Autos eine wichtige Rolle im Leben der Trandems spielen. John, der Mann, den ich gerne näher kennenlernen möchte, ist Besitzer einer kleinen Autowerkstatt. Solide Mittelklasse, sympathisch, drahtig, die schulterlangen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. John ist Mitte 40, seine Frau Lydia um einiges jünger, zart, bildhübsch, schüchtern wirkt sie. Ihr Haus liegt in einer neuen Siedlung am Rande der Stadt: Bäume, die im Sommer Schatten spenden könnten, gibt es hier in dieser Siedlung – noch – keine. Die Vorgärten und die im Winter braunen Wiesen hinter den Häusern sind kahl. Die unvermeidlichen BBQ-Griller stehen – winterfest verhüllt – auf jeder Terrasse.

Religion, das Fundament des Lebens

Die Trandems sind so etwas wie eine konservative Bilderbuchfamilie, stolz darauf, ihre konservativen Werte hochzuhalten, und stolz darauf, tiefreligiös zu sein.