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Mano Bouzamour
Samir, genannt Sam

Mano Bouzamour

Samir,
genannt Sam

Roman

Aus dem Niederländischen übersetzt
von Bettina Bach

Residenz Verlag

Für Solaiman und Eva

»Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe.«
Anne Frank

Inhalt

Prolog

Der letzte Unterrichtstag

Die erste Stunde

Die zweite Stunde

Die dritte Stunde

Die Pause

Wo gehst du hin?

Eiskalt

Tote Blätter

Tag der Befreiung

Dank

Prolog

Mann, Maria voller Gnade, ich darf aufs Gymnasium, verdammt noch mal. Mein Bruder und ich liefen gut gelaunt zwischen rauchenden Jugendlichen die Eingangstreppe der Schule hinunter, wo ich gerade mein Kennenlerngespräch geführt hatte. Weil meine bescheuerte Grundschullehrerin mir nur eine Hauptschulempfehlung gegeben hat, obwohl ich laut Abschlusstest fürs Gymnasium geeignet bin, sollte ich mit einem Elternteil zum Gespräch kommen. Dann wollten sie entscheiden, ob ich aufs Gymnasium durfte oder nicht. Wie immer bei Schulgesprächen war mein Bruder dabei.

Eine Niederländischlehrerin nahm mich ins Kreuzverhör. Hätte nur noch gefehlt, dass sie mich an den Stuhl fesselt. Eine Dreiviertelstunde später schloss sie mit der Frage: »Versprichst du mir, dir wirklich Mühe zu geben, wenn du hier bei uns einen Platz bekommst?«

»Aber selbstverständlich.«

Sie hatte zu meinem Bruder geschaut, der neben mir saß.

»Sie haben das auch gehört? Sehr schön. Dann habe ich ja einen Zeugen. Sorgen Sie dafür, dass er Wort hält?«

»Wie ein Gefängniswärter, da können Sie ganz beruhigt sein. Die nächsten sechs Jahre gehört er mir.«

Mein Bruder legte mir seine warme Hand in den Nacken. Wir überquerten die Straße und gingen zu Soussi, dem engsten Freund meines Bruders, der auf dem Bürgersteig auf uns wartete. Er saß auf seiner eigenen Vespa, die Füße aber hatte er auf den Roller meines Bruders gestellt. Mein Bruder flüsterte: »Tu so, als wärst du ganz geknickt«, und dann rief er Soussi zu: »Nimm die Flossen von meinem Roller!«

Soussi sprang auf, als er uns sah. Er sprach platteren Amsterdamer Dialekt als der Schlagersänger André Hazes. »Hier an der Schule laufen echt klasse Weiber rum, Alter. Und? Was hat se gesagt? Wie lief’s? Haste nen Platz gekriegt?«

Ich spielte mit dem Schirm meiner verkehrt herum aufgesetzten roten Lacoste-Kappe, aus der meine Tolle wie eine hohe Welle aufragte, seufzte tief und sagte: »Nee, Mann.«

»Nee? Echt jetz?« Er sah meinen Bruder an: »Soll ich denen mal Bescheid stoßen? Willste das? Ich geh da gleich mal rein, mir doch egal, das macht mich noch ganz meschugge!«

Soussi klappte die Sitzbank seines Rollers hoch, steckte den Kopf halb ins Staufach und wühlte darin herum.

Mein Bruder fragte: »Was hast du vor? Dem Direktor ins Bein schießen?«

»Wenns sein muss.«

»Ach, hör doch auf.«

»Es sind doch alles nur miese Faschos. Wäre ich bloß mitgekommen, aber nee: ›Wart mal kurz‹, war die Ansage. Ihr schämt euch wohl für mich!«

»Sam hat einen Platz bekommen.«

Soussi schaute auf.

»Echt?«

Ich nickte eifrig.

»Wusst ichs doch! Ich hab euch gleich durchschaut. Komm mal her, Kleiner.« Er umarmte mich und sagte: »Das muss gefeiert werden, gehn wir Eis essen?« Soussi schielte schelmisch auf eine Gruppe fröhlich hüpfender Sommerkleider, wahrscheinlich Abiturientinnen, angesichts der Tatsache, dass sie über alle weiblichen Attribute verfügten. »Kannste gleich mal mit dem Eis üben, hier an der Schule wirste die nächsten Jahre garantiert ne Menge lecken, das sag ich dir.«

»Bäh«, sagte ich.

»Der muss die nächsten Jahre einen Keuschheitsgürtel tragen. Dann kann er sich auf die Schule konzentrieren, stimmt’s, Sam?«

Soussi ignorierte meinen Bruder und schaute mich an: »Bäh? Magst du kein Eis?« Jetzt erst wandte er sich an meinen Bruder: »Dir sollte man sonen Keuschheitsgürtel oder was umschnallen. Möchte ja gern wissen, wann dein Schwanz mal schlappmacht.«

»Dafür sollte man dich lebenslang in eine Zwangsjacke stecken, Soussi. In die Geschlossene gehörst du, aber echt. Du wolltest dich gerade an einer unschuldigen Lehrerin vergreifen.«

»Keiner ist unschuldig. Lehrer schon gar nicht. Wozu wären sie sonst Lehrer? Für Sam ist son Keuschheitsgürtel trotzdem ne geile Idee.«

»Mann, du bist so versaut«, sagte mein Bruder.

»Selber.«

»Kein Wunder, dass du immer nur deine rechte Hand vögelst.«

»Du kennst mich schon dein ganzes mickriges Leben, du Penner, ich wichse mit links. Aber jetz mal Klartext, wo geht’s hin? Pisa oder Venezia?«

»Sam darf es sich aussuchen, heute ist sein Tag.«

»Fahr bei mir mit, kleiner Tiger«, sagte Soussi, »erzähl ich dir ne krasse Geschichte von deiner zukünftigen Schule.«

Ich stieg hinten auf und sagte: »Bei Venezia schmeckt es ekelhaft. Ich will zu Pisa.«

Während wir über den Stadionweg fuhren, drehte sich Soussi immer wieder zur Seite und erzählte mir, im Zweiten Weltkrieg sei der Direktor des Hervormd Lyceum Zuid ein mieser Landesverräter gewesen, ein Faschist. Und dass ich aufpassen sollte, vielleicht wäre der jetzige Direktor ja sein Enkel.

»Weißte, was du machst? Du findest raus, ob ers is, und wenn ja, dann fackeln wir sein Auto ab. Mit ihm drin, logo.«

Soussi war der Geschichtsexperte schlechthin und total fasziniert vom Zweiten Weltkrieg. Er arbeitete schon seit Jahren für einen bekannten Händler auf dem Albert-Cuyp-Markt. Sein Chef, Benjamin der Jude, erzählte ihm bei der Arbeit faszinierende Geschichten über den Holocaust.

Soussi war ein Marokkaner, der aussah wie ein Neger. Seine Eltern kamen aus Ouarzazate, der Hauptstadt der Provinz Ouarzazate im Süden Marokkos, wo die Sonne die Bevölkerung schwarzgebrannt hat und sich die großen Filmstudios befinden. Viele Hollywood-Regisseure haben ihre Wüstenszenen dort gedreht. Soussis vier Lieblingsfilme, Gladiator, Königreich der Himmel, Lawrence von Arabien und Star Wars sind alle dort entstanden. Manchmal frage ich mich, ob es auch seine Lieblingsfilme wären, wenn man sie woanders gedreht hätte. Egal.

Hin und wieder lugte Soussis neues Tattoo aus dem Kragen seines Ajax-Trikots heraus: »Mokums Stolz« – Mokum ist der jüdische Spitzname von Amsterdam.

Soussi hatte einmal gesagt: »Mokum liegt mir mehr am Herzen als meine eigene Mutter.«

Zum Spaß sagte er, dass er sich die drei kleinen Kreuze des Stadtwappens, die auch auf den Straßenpollern waren, auf den Schwanz tätowieren lassen wolle. Damit die Mädchen, die er vögelte, gleich wüssten, mit wem sie es zutun hatten.

Beim Hotel Okura in der Ferdinand Bolstraat fuhren wir neben meinem Bruder her. Tapfer und unerschrocken saß er auf seiner roten Vespa. In seinem flatternden T-Shirt von D&G, das sich aber straff um den Bizeps legte. Wegen der strahlend hellen Sonne sah man Reliefs auf seinen muskulösen Armen; Schatten, die alle Konturen betonten und gut zur Geltung brachten. Sogar seine Hände waren sehnig. Das lag daran, dass er so viel auf unserem Flügel spielte. An einem Handgelenk hing eine Ansammlung von Armbändern, am anderen eine Uhr, die funkelte wie die Lichtspiegelungen auf der Amstel. Es war eine speziell für Tiefseetaucher entworfene Rolex Submariner aus Gold und Stahl. »Schack Kusto-Uhr« nannte Soussi sie, gefolgt von »Wusstest du schon …?« Und dann erzählte er, dass Kusto nach dem Zweiten Weltkrieg die von den Moffen heimlich als Geschenk für die Alliierten in den französischen Häfen verteilten Seeminen, die nicht explodiert waren, entschärft hatte.

Mein Bruder arbeitete bei Hello Sushi, in einer Seitenstraße des Albert-Cuyp-Markts. Wegen der ununterbrochenen Zufuhr schöner Mädchen, die er zum Essen dorthin zitierte, war sein Chef ganz versessen auf ihn und trug sich schon mit Expansionsplänen. Bei Sushi drehen die Mädchen einfach durch.

Von seiner Schicht brachte mein Bruder immer kistenweise Essen mit: California Rolls, scharfe Thunfisch-XL-Rollen, Lachs Teriyaki, Edamame Bohnen und knusprige Handrollen mit Tempura-Garnele.

Mit erhobenem Kinn fuhr er durch Amsterdam, als würde die Stadt ihm gehören. Hin und wieder zwinkerte er mir zu. Dann blinzelte ich zurück, total verkrampft und überhaupt nicht so mühelos wie er. Alles, was mein Bruder machte, wirkte lässig und ging mit einer ordentlichen Portion Selbstbewusstsein einher: wie er fremde Mädchen anquatschte, wie er seine Freunde im Griff hatte, schwierige Fragen beantwortete, Roller fuhr, ja, sogar wie er zu Fuß ging! Ich imitierte ihn so gut wie möglich, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Ab und zu blies er mir ein Kusshändchen zu, das ich krampfhaft abwehrte.

Bei der Brücke über die Jozef Israëlskade stand ein alter Mann und fütterte Tauben. Er trug einen schäbigen Wintermantel, obwohl es Juni war. Immer sind es die zerlumpten Gestalten, die an die Tauben denken, nie die geleckten Typen in den Maßanzügen. Um die Enten in der Jozef Israëlskade zu erfreuen, warf der Mann Brot hinunter. Na ja, eigentlich enttäuschte er sie eher, denn ratzfatz kamen diese verdammt großen Möwen herbeigeflogen, wie eine Art Nazi-Adler. Wie kreiselnde Sturzbomber schnappten sie den Enten das Brot aus der Luft weg. Als wir vorbeiflitzten, flatterten tausende Tauben um uns herum, manche flogen sogar ein Stück neben uns her. Ich fand es sehr schön, aber Soussi nervte es ziemlich.

»Fliegende Ratten!«

»Nee, Turteltäubchen!«, schrie ich.

»Gleich scheißen die uns noch voll!«

»Das bringt Glück!«

»Quatsch!«

Die Sonne schien durch ihre zarten Flügel und eine Taube, die ganz dicht neben mir flog, hatte herunterhängende gekappte Füße, wie ein Landegestell mit Produktionsfehler. Die Taube legte die Füße eng an, als würde sie sich schämen. Am schönsten fand ich aber das Geräusch, das sie beim Aufsteigen machten, das Flattern der Flügel, mit denen die Tauben sich wie Schwimmer im Schmetterlingsstil gierig nach oben schraubten, sodass es aussah, als würden sie in der Luft ertrinken.

Dann geschah etwas sehr Trauriges.

Ein Auto vor uns hupte, aber zu spät. Es erwischte eine Taube. Das Rumpeln des Autos über den plattgefahrenen Vogel brachte meinen Bruder und Soussi dazu, am Tatort zu halten. Das schuldige Auto fuhr weiter, und bei jeder Umdrehung des Rads wurde ein Klumpen roter Metzgereiabfall sichtbar. Stumm betrachteten wir die Überreste der Stadttaube und die wie Trauerblumen auf der Straße verteilten Federbüschel. Der schäbige Typ kam auch herbei.

Soussi unterbrach unser Schweigen. »Ah, das war bestimmt eine Brieftaube.«

Der Vogelfütterer sah ihn eindringlich an. Dann warf er sich zu Boden und fing an zu singen, während er sich an der zerplatzten Taube zu schaffen machte, als wollte er sie für die Bestattung herrichten.

Schubse doch nicht so, Täubchen Drängele nicht so, Täubchen

Hab noch ein bisschen Geduld

Pick mir nicht in die Hände

Sind so bescheuert am Ende

Ach, was bist du in schöne Farben gehüllt

Er summte sein Lied, nahm die abgeknickten Flügel mit den Fingern, spreizte sie und fächelte sanft damit herum. Mein Bruder sah mich an, ich sah Soussi an, und in diesem einen Moment der Unachtsamkeit riss der Mann der Taube mit einem Ruck die Flügel vom Rumpf. Wir sahen ihm entgeistert zu, wie er sie in die Innentasche seines zerschlissenen Mantels steckte. »Es gibt welche, die sammeln Briefmarken, ich sammle Flügel.«

Er lächelte stillvergnügt und wollte uns die Hand geben, wahrscheinlich, weil er es so nett fand, dass wir der Taube die letzte Ehre erwiesen hatten.

Seine ausgestreckte Hand mit den in Vogelblut getunkten Fingerspitzen blieb zwischen uns in der Luft hängen.

Stellvertretend für uns alle sagte Soussi: »Die Klauen behältste mal hübsch bei dir, Alter.«

Der Mann trollte sich, ging am Ufer entlang und verschwand. Verstohlen lachend setzten wir unseren Weg fort, wir konnten nicht fassen, was gerade passiert war. Mein Bruder vorneweg, wir hinter ihm her. Bei der ewig verstopften Kreuzung der Scheldestraat und der Churchilllaan standen wir endlos lange an einer Ampel. Nichts rührte sich, als wollte auch der Verkehr der gefallenen Taube gedenken. Die Radfahrer standen mit den Füßen am Boden da, die Fußgänger drückten ungeduldig auf den Ampelknopf, die Autofahrer spielten mit der Kupplung und rollten immer wieder ein Stückchen vor. Genau gleichzeitig, als hätten sie sich telepathisch verständigt, schossen Soussi und mein Bruder als Einzige über die Kreuzung, rote Ampel hin oder her – mir gab es einen Ruck nach hinten.

»Halt dich an meinen Speckrollen fest, Tiger.«

Danach fassten auch die anderen plötzlich Mut und alle schoben sich kreuz und quer über die Straße. Mein Bruder und Soussi waren echte Vorkämpfer, ihr Verhalten war faszinierend und ansteckend, es verlieh ihnen Glanz. Beide tanzten aus der Reihe, als würden sie von einem besonderen Lebenslicht beschienen.

Langsam fuhren wir durch die Scheldestraat. Dort fielen einem als Erstes die bunten Schilder an den Läden auf, manche einladend, andere abstoßend. Doch wenn man genauer hinschaute, merkte man, dass es eine Ganovenstraße war. Zwielichtige Gestalten aus der Oberund Unterwelt saßen gemeinsam vor den Lokalen an einem Tisch, aßen zusammen, stießen auf ihre neuen Projekte an und trotzten der Krise mit einem Grinsen im Gesicht.

Soussi überholte genervt eine Radfahrerin und maulte: »Mach voran, du Fotze!«

Dann sah er sich auffällig nach dem Imbissladen Sal Meijer um, wo ein Mann mit Kippa wie ein Torwächter neben der offenen Tür stand. Über ihm ein einladendes Aushängeschild mit drei hebräischen Buchstaben darauf. Wahrscheinlich stand da Sal. Doch ich wollte es genau wissen, also zeigte ich hin und fragte Soussi, was dort wirklich stehe.

»Koscher«, erklärte er. »Du weißt ja, dass die Juden nicht alles essen dürfen. Und die drei Buchstaben heißen, dass sie sich hier getrost den Bauch vollschlagen dürfen. Und wir halbe Muslime also auch.«

Soussi winkte: »Hey, Hebräer, bin gleich bei dir!«

Der Torhüter hob den Daumen.

»Ich hab in dem Laden anschreiben lassen. In der Pause hole ich da immer Brötchen mit Pökelfleisch und Leber für Benjamin und mich. Der Hebräer schaut alle elf Sekunden raus. Und die Tür steht immer sperrangelweit offen, auch im Winter.«

Mein Bruder manövrierte sich neben uns und fragte: »Warum? Hat er Angst, dass auf der anderen Straßenseite ein Marokkaner mit einem Granatwerfer auf der Schulter steht?«

»Nee«, lachte Soussi, »der wartet auf den Messias. Ohne Scheiß. Immer steht da ein Stuhl für ihn, damit er sich gleich zum Essen hinsetzen kann. Und jedes Mal, wenn ich hingehe, klopfe ich an und sag, der Messias ist da.«

Unter Bäumen mit abblätternder Borke befand sich in einer Art Kiosk der Eissalon, davor eine lange Schlange langweiliger, sommerlich gekleideter Paare.

Nach einer Viertelstunde waren wir dran. Die gut gelaunte Frau hinter den Behältern mit buntem Eis sagte: »Bongiorno, was kann ich für euch tun?«

»Bon-was?«, fragte Soussi. »Wir sind hier in Mokum, Schätzchen, tu lieber was für dich und sprich Niederländisch. Oder hab ich etwa ›Schalom Aleikum‹ gesagt?«

Mein Bruder schaute ihn verärgert an.

»Tut mir leid. Das müssen wir sagen. Mein Chef meint, es gibt dem Ganzen italienisches Flair.«

»Wo ist er denn, dein Chef?«

Mein Bruder seufzte, weil Soussi immer weiter laberte.

»Im Urlaub, in Italien.«

»Mann, hat der’s gut. Sam, was willste?«

Schließlich entschied ich mich für eine Waffel mit fünf Kugeln Schokoeis und Schlagsahne, Nüssen, Streuseln und Karamellsauce.

Mein Bruder orderte einen Becher Joghurteis mit halben Erdbeeren und Bananenscheiben.

»Mit Sahne?«

»Ohne.«

Soussi nahm eine Waffel mit drei Kugeln. Zimt, Backbirne und Amaretti. »Und wenn schon Italienisch, kipp Amaretto drüber. Por favor

»Das ist Spanisch, auf Italienisch heißt es per favore

»Und tuste mich dann auch noch verbessern?«

Soussi wollte zahlen, doch da kam ihm wieder die Frau zuvor. Amüsiert zeigte sie auf einen Aufkleber: Da stand »Dafür haben wir leider kein Wechselgeld« auf dem Hintergrund eines lila Fünfhunderter-Scheins.

Ungläubig drehte sich Soussi einmal um die eigene Achse und sagte: »Was bist’n du für ne Meckerziege.«

Mein Bruder steckte die Hände in die Taschen und zog einen ganzen Stapel lila Scheine hervor.

Beide sahen mich an. Ich stülpte meine Taschen um, ein Stoff fussel fiel heraus.

Hinter uns fragte ein Herr mit schütterem Haar in Socken und Sandalen: »Wird’s bald? Hier werden doch keine Wohnungen verkauft!«

Soussi sah ihn auf seine typische Soussi-Art an, jungenhaft und provozierend, was in zehn von zehn Fällen hieß, dass er gleich richtig pissig werden würde.

Die Schlange hinter uns wurde immer länger, die Leute wurden immer ungeduldiger.

»Weißte was?«, wandte sich Soussi an die Eisverkäuferin, gab ihr den Fünfhunderter und drehte sich dann um. »Ich spendiere der ganzen Schlange ein Eis. Allen außer dem Vollidioten mit den Sandalen hier.«

Auf dem Turm des RAI-Messezentrums stand, dass es fünfundzwanzig Grad hatte. Sonnenlicht fiel durchs Laubdach, es sah aus, als wären leuchtende Scherben auf das Klinkerpflaster gestreut. Wir saßen neben dem Eiscafé auf einer Bank, die rund um einen Kübel mit Pflanzen aufgestellt war. Soussi legte mir die Hand auf die Schulter, mein Bruder massierte mir den Nacken. Wir polierten unser Eis mit der Zunge. Ich machte immer wieder Pause, wenn ich das Gefühl hatte, mein Gehirn würde einfrieren. Gegenüber waren dicke Männer mit orangefarbenen Westen und weißen Helmen mit Straßenbauarbeiten beschäftigt. Unter uns wurden mit riesigen Bohrmaschinen Tunnel für die Nord-Süd-U-Bahnlinie gebohrt. Soussi fand die ganze Sache bescheuert. Mein Bruder meinte, neue Vorhaben würden immer für Stress sorgen. Quatsch, sagte Soussi, da würden bloß seine Steuergelder mit vollen Händen verprasst. Was er eigentlich labere, fragte mein Bruder. »Deine Steuergelder? Seit wann bezahlst du Steuern? Du arbeitest doch schwarz auf dem Albert Cuyp! Und wenn du jetzt den Mund so weit aufreißt, will ich dich nicht in der U-Bahn fahren sehen, wenn sie dann mal 2073 fertig ist.«

Die Leute, die aus der Eissalon-Schlange kamen, grüßten Soussi einer nach dem anderen wie einen alten Bekannten und bedankten sich für seine Großzügigkeit.

Soussi lächelte: »Ein schöner Tag heute!«

Er betrachtete die glücklichen Gesichter und prahlte: »Tu ich glatt auch mal was für den Glauben. Almosen geben, eine der fünf Säulen des Islam. Manchmal muss man barmherzig sein. Was steht noch mal auf dem Wappen von Amsterdam? Heldenhaft? Bin ich. Entschlossen? Auch. Barmherzig? Seit heute!«

Mein Bruder flirtete währenddessen mit einer jungen Mutter, die ihrem Kind die schmutzigen Wangen abwischte. Soussi quatschte immer weiter und ich nickte alle zehn Sekunden, damit es aussah, als wäre ich ganz bei der Sache.

Vor ein paar Tagen war ich aus dem Schlaf gerissen worden, als mein Bruder und Soussi sich mitten in der Nacht in unser Zimmer schlichen. Der Holzboden knarrte furchtbar. Mein Bruder schaltete das Licht im Wüstenterrarium ein und ein kaum hörbares Summen erfüllte den Raum – Sis, die Wüstenschlange. Sie hing spiralförmig an einem Ast. An ihrem Bauch zeichneten sich zwei Hubbel ab: ihr Abendessen, zwei Babyratten. Mein Bruder und Soussi sahen zu mir herüber, doch ich tat, als würde ich schlafen. Mit schweren Sporttaschen kamen sie auf Zehenspitzen ins Zimmer. Soussis Strumpf hatte ein Loch, sein großer Zeh lugte heraus, der Nagel war dick wie Pappe und musste dringend geschnitten werden. So weit würde mein Bruder es nie kommen lassen, er schnitt sich die Zehen- und Fingernägel immer rappelkurz, sodass es aussah, als kaute er sie ab. Er schnitt sogar mir die Zehennägel, einmal im Monat, weil ich mich selbst nicht traute. Wie bei allem, was er tat, war mein Bruder peinlich genau. Einmal hatte Soussi mir auf der Bank in unserer Straße von Schützengrabenfüßen erzählt, die die Soldaten im Ersten Weltkrieg bekommen hatten, und seither verfolgte mich die Angst, ich würde auch welche bekommen, wenn ich mir die Zehennägel schnitt.

Als sie sich leise in unsere Wohnung schlichen, schliefen alle: meine Eltern, meine pubertierenden Zwillingsschwestern Mina und Lina – denn wenn die wach waren, war der Rest der Straße es auch. Aber vorläufig steckten sie noch tief im REM-Schlaf und träumten, wahrscheinlich von einem coolen Typen an ihrer Schule, der sich einen Scheiß um die Lehrer scherte, sie ständig provozierte, in den Pausen öffentlich kifft e und sich nach dem Unterricht leidenschaftlich mit den Schülern anderer Schulen in der Nachbarschaft prügelte. Vater träumte zweifellos vom heißen Saharawind, der durch die Straßen seines Geburtsortes fegte und diese feinen, roten Sandkörnchen auf die Orangenplantagen und das verwahrloste Land mit Kakteen voller Kaktusfeigen herabregnen ließ. Die Felder lagen inmitten von Hügeln, auf denen unter meerblauem Himmel Olivenbäume wuchsen. Zwischen den Olivenbäumen die streitenden Landbesitzer mit Gesichtern, so zerknittert wie unordentlich gefaltete braune Papiertaschen. Ewige Bauernfehden, tröstende und heilende Bilder aus seiner Jugend in Marokko. Mutter träumte garantiert von einem gewaltig dicken Leib, langen Tafeln voller gefüllter Hühner und Gläsern gluckernden Minztees, nicht mit zwei, nicht mit vier, sondern mit sechs Löffeln Zucker. Die Arme, alle ihre Freundinnen hatten die Ausmaße von Flugzeugträgern, und sie wäre liebend gern mit der Flotte mitgefahren, doch sie blieb immer weiter zurück; sie aß, so viel sie nur konnte, war aber trotzdem spindeldürr. Einmal hatte ich sie sogar zum Hausarzt begleiten müssen, als Dolmetscher. »Sag ihr, dass sie einen sagenhaft schnellen Stoffwechsel hat, wie der Heizraum eines großen Schiffes«, jubelte der Hausarzt und fuhr fort: »Das ist sehr positiv, Frau Zafar! Die meisten, ja eigentlich alle Frauen, würden dafür einen Mord begehen.«

Egal.

Alle träumten, nur ich nicht.

Mein Bruder und Soussi waren gut gelaunt. Sie stellten die Sporttaschen sachte auf den Boden und fielen sich in die Arme, dort mitten in der Nacht. Soussi wiederholte ständig »der Knaller unseres Lebens«, als wäre es ein Mantra, während mein Bruder mit schwarzen Lederhandschuhen einen prall gefüllten lila Safebag nach dem anderen aus den Sporttaschen zauberte. Soussi saß auf dem Klavierschemel, den Rücken an die geschlossene Klappe gelehnt, und schlug ungläubig die knorrigen Markthände vors Gesicht. Zwischen seinen Fingern entdeckte ich weit aufgerissene Augen. Soussi zappelte mehr und mehr mit den Beinen wie ein Kind, das dringend aufs Klo muss. Das ganze Terrarium bebte leise. Mein Bruder machte ungerührt weiter, als stünde eine sofortige Überflutung bevor und er wäre ein Soldat, der Sandsäcke stapelte. Als er fertig war, setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden, betrachtete den lila Stapel und rieb sich die behandschuhten Hände, als säße er am Lagerfeuer.

Ich sah sie mitten in der Nacht tagträumen.

Ich sah, wie sie schauten, ganz still, Soussi strahlend, mein Bruder kühl.

Minutenlang genossen sie den Anblick.

Kurz bevor sie anfingen, das Geld zu zählen, warfen sie mir rasch einen Blick zu. Ich kniff die Augen zusammen.

»Schau mal, wie friedlich Tigerchen poft«, hatte Soussi geflüstert und mich vorsichtig auf die Wange geküsst.

Soussi schleckte nicht mehr an seinem Eis, er war plötzlich verstummt, und das riss mich aus meinen Gedanken. Mit ernstem Blick folgte er einem Radfahrer, der, langsamer als die anderen, neben uns auf dem Radweg vorbeifuhr. Es war ein Mann um die vierzig. Er trug ein Käppi und eine Brille. Außerdem hatte er schwarze Ohrstöpsel. Soussi schien ganz fasziniert von ihm.

In aller Ruhe stand er auf, warf sein Eis weg und gab meinem Bruder, der ganz in seinen Paarungstanz mit der jungen Mutter vertieft war, ein Zeichen.

Soussi sagte: »Elf Uhr.«

Mein Bruder schaute auf.

»Ich sehe hier keine tolle Braut.«

»Auf dem Fahrrad, da gegenüber, bei der Bushaltestelle, der mit dem Käppi. Das ist Peter. Ein Schnüffler. Er checkt nicht, dass wir es mitbekommen haben. Zum Glück.«

»Okay, und jetzt?«

Soussi sah meinen Bruder an, als wollte er ihn verprügeln. Und das könnte er auch. Jeden Tag nach der Arbeit trainierte er eine Stunde lang in der Boxschule Albert Cuyp. Sagenhaft fand ich das, wenn Soussi sich bedrohlich um die baumelnden Boxsäcke bewegte und sie derart brutal bearbeitete, dass die Besucher beeindruckt stehen blieben.

»Ein Zivilbulle is nie allein. Die gehörn zu einer Bande stiller Kameraden, die ihre Beute umkreisen. Komm, machen wir die Biege.«

»Glaubst du etwa, wir sind die einzigen Gauner hier in der Scheldestraat?«

»Bleib ruhig da, Macker, ich verpiss mich. Was is mit dir, Sam, kommste mit?«

»Sam bleibt bei mir. Wir müssen noch reden.«

Den Zivilpolizisten im Blick aß ich mein tropfendes Eis auf. Ab und zu führte er sein Handgelenk zum Kinn und murmelte etwas vor sich hin, als würde er beten. Wahrscheinlich sprach er in ein Funkgerät im Ärmel und hielt so seine unsichtbaren Kollegen auf dem Laufenden.

Der Hintern der jungen Mutter schob sich zwischen mich und den Geheimen. Sie verabschiedete sich von meinem Bruder und verließ ihn etwas enttäuscht. Mein Bruder schaute, als wäre Soussi daran schuld.

»Hör mal her, geiler Bock. Bin ich dir schon mal in die Quere gekommen, wenn du was wolltest? Ich seh den Typen heute schon zum zweiten Mal. Zuerst draußen vor der Schule, als ich auf euch gewartet hab. Da dachte ich noch: Der hat sich nur verirrt. Und jetz hör mir mal gut zu. Ich hab schon vier Jahre auf Bewährung. Das ist nicht nichts, Alter. Wir ham schon mal gesagt, dass wir für ein Jahr abtau-, äh, in Urlaub fahren sollten.«

»Und wenn der Zivilbulle zum Marktstand schlurft und fragt, wo du abgeblieben bist?«

»Benjamin weiß, wie das geht. Den Dummen spielen. Kann er echt gut. Sein Vater hat mal nen Sturmbannführer von der SS angeschmiert und is damit durchgekommen. Der hats im Blut.«

»Trotzdem ist es verdächtig, wenn wir uns genau jetzt aus dem Staub machen.«

»Mir scheißegal. Ich seh schon mein ganzes Leben verdächtig aus. Wenn ich erst mal in Bali am Strand abhänge, könnense von mir aus Kreise um mich rum radeln.«

Sie schwiegen. Das Rauschen des Straßenverkehrs und der Gespräche um uns herum trat in den Vordergrund. Bis es wiederum von den Düsentriebwerken eines Flugzeuges im Landeanflug auf Schiphol übertönt wurde.

»Ich glaube nicht an Zufall«, sagte Soussi und zeigte zum Himmel, »aber wenn der Flieger hier kein Zeichen ist, dass wir ne Fliege machen sollen, bin ich Kriminalreporter.«

Mein Bruder fuhr sich übers Gesicht.

Soussi fragte: »Geh ich dir auf den Sack?«

»Nein. Oder doch, schon. Sam ist endlich am Gymnasium angenommen, wir zwei haben für die nächste Zeit ausgesorgt, wir sitzen in der Sonne und essen Eis. Weißt du was? Reden wir heute Abend im Palladium weiter.«

In aller Eile nahm Soussi seine Vespa vom Ständer und setzte sich drauf.

»Geht klar. Ich fahr jetzt ein Stück weiter zum Juden, muss noch blechen. Danach scheuche ich den Zivilbullen auf seinem Rad quer durch Amsterdam, bis ihm die Eingeweide zum Hals rauskommen. Wir hören uns.«

»Zieh dich aber heute Abend ordentlich an, ja?«

»Haste was an meiner Ajax-Kluft auszusetzen?«

»Nee.«

»Na dann, hör auf mit dem schlappen Gequatsche!«

»Aha. Und was steht auf deinem Rücken?«

Mein Bruder lachte ihn aus.

»Das hatten wir schon. Maul hier nicht rum.«

Mein Bruder lachte noch lauter und steckte mich an.

Soussi drehte sich um und sagte: »Schau mal, extra für dich.«

Er hatte sich die geniale Devise unseres Stadtviertels hinten auf sein Ajax-Shirt drucken lassen:

DE PIJP

IS

HEISS

»Bei dem Anblick kriege ich Augenkrebs«, sagte mein Bruder und legte die Hand über die Stirn, »tu’s weg! Zieh ein Cape darüber. Kratze es ab, mit den Nägeln, einem Eisschaber oder einem Hochdruckreiniger. Mach irgendwas. Es ist nicht auszuhalten.«

»Nee, dein Pickelface ist nicht zum Aushalten. Wir hören uns. Hier, Sam, ich hab was für dich.«

Er zog einen Umschlag aus seiner Tasche und gab ihn mir.

»Was Kleines.«

Ich riss den Umschlag auf und verschmierte drei glänzende Dauerkarten mit Schokoeis.

»Nächste Saison, jeden zweiten Sonntag zu Ajax.«

Ich fiel ihm um den Hals.

»Mann! Soussi! Du bist ein verdammter Tiger, Alter!«

»Nee, du bist ein Tiger.«

»Nee, nee, du bist der Tiger.«

»Ihr seid beide Tiger, okay?«, sagte mein Bruder.

Soussi seufzte und verabschiedete sich: »Macht’s gut!«

Er startete den Motor und fuhr los. Wie ein Skifahrer beim Slalom raste er auf dem Bürgersteig zwischen den Fußgängern hindurch und bog dann gegen die Fahrtrichtung auf die Straße. Der Zivilpolizist sah ihm hinterher, und ein paar Takte später trat er träge in die Tretkurbeln und nahm die Verfolgung auf, als wäre er magnetisch angezogen.

Als Soussi weg war, sagte mein Bruder, ich dürfe das Gymnasium nicht in den Sand setzen. Keiner aus unserer Familie hätte Abi gemacht. Soussi auch nicht.

»Warum hast du’s eigentlich nicht gemacht?«, fragte ich.

Das Eis in seinem Becher war geschmolzen, er trank es aus und schaute zur ABN Amro-Bank gegenüber, wo die Kunden ein und aus gingen.

»Ich hätte es locker schaffen können«, antwortete mein Bruder.

Ununterbrochen blickte er zur Bank, während Autos vorbeifuhren; neben uns auf dem Radweg klapperte ein kaputter Kettenschutz knarzend gegen einen Fahrradrahmen; ein Auto fuhr auf den Bürgersteig, der Fahrer ließ den Blinker an und reihte sich in die Schlange vor dem Eisgeschäft ein. Vor meinen baumelnden Füßen machten sich ein paar Tauben mit dicken Hälsen über eine weggeworfene Eiswaffel her – wahrscheinlich Bekannte oder vielleicht sogar Blutsverwandte der überfahrenen Taube.

»Weißt du warum, Sam? Weil sich keiner um mich geschert hat. Zu Hause hat nie jemand nach meinen Hausaufgaben gefragt. Oder ob ich was nicht verstanden habe. Logisch, Vater und Mutter können ja nicht mal lesen und schreiben. Sie sind nie zur Schule gegangen. Aber egal, ich war an der Montessori-Schule, am Gymnasialzweig, in der elften Klasse. Habe gepaukt wie ein Blöder. Eigentlich könnte ich immer noch zur Abendschule gehen und das Abi nachholen, aber darauf habe ich echt keinen Bock. Siehst du mich brav die Schulbank drücken und so einem lausigen Lehrer lauschen? Ich war also im vorletzten Schuljahr vorm Abi. Zu Hause konnte ich mich tagsüber nicht auf die Hausaufgaben konzentrieren, also bin ich nachts wach geblieben. Manchmal habe ich bis vier Uhr morgens gebüffelt. Bis ich matschig in der Birne war und dachte: Was soll der Geiz? Die können mich doch alle mal. Alle Lehrer, meine pickligen Mitschüler, Vater und Mutter, die ganze Welt konnte mich mal. Jetzt, so im Nachhinein, war das total bescheuert. Die viele Arbeit umsonst. Aber in dem Moment kapiert man’s einfach nicht. Die Konsequenzen waren mir nicht klar. Da war ich sechzehn, jetzt bin ich vierundzwanzig. Warum nehme ich dich überallhin mit? Was meinst du? Weil sich alle einen Dreck um mich geschert haben und mich niemand irgendwohin mitgenommen hat. Was ich damit sagen will, ist, dass man es leichter hinwirft, wenn einem keiner hilft. Aber mach dir keine Sorgen, ich passe auf dich auf, Kleiner. Wir machen das zusammen.«

Er drückte mich fest. Das tat er sonst nie. Als er mich so umarmte, hätte ich weinen können.

»Ich kümmere mich um dich, die ganze Zeit, bis zum Abi. Demnächst muss ich noch ein paar Sachen regeln, aber danach helfe ich dir jeden Tag mit den Hausaufgaben. Hast du was nicht kapiert? Ich erkläre es dir. Wenn du einen Test hast, frage ich dich ab. Und noch mal und noch mal.«

Er lachte, ich nicht.

»Brauchst du Mathe-Nachhilfe? Ich kenne da ein paar kluge Mädchen, die dir gern helfen. Solange du die Finger von ihnen lässt.«

»Ich weiß aber nicht, ob ich das schaffe.«

»Scherzkeks. Tut dein Pimmel es schon oder nicht?«

»Er kann schon zu den Sternen zeigen.«

»Von Sternchen hältst du ihn mal lieber fern.«

»Wie meinst du das?«

»Vergiss es.«

Mein Bruder ging zu seiner Vespa, holte etwas aus dem vorderen Fach und gab es mir. Was für ein Tag! Zuerst wurde ich an der Schule angenommen, in die ich so gern gehen wollte, dann die Dauerkarten und jetzt das: zwei Karten fürs Concertgebouw. Vordere Logenplätze für eine Aufführung von Simeon ten Holts Canto Ostinato. Ein sagenhaft tolles Stück aus spielerischen, wiederkehrenden kurzen Phrasen, die sich durch gelegentliche feinsinnige Variationen unterscheiden. Mein Bruder spielte den Canto Ostinato sehr oft auf dem Flügel in unserem Zimmer. Mich stimmte es immer ein bisschen traurig, gleichzeitig aber auch sehr glücklich, wenn ich ihn spielen hörte, so ein Gefühl, wie wenn man sich Fotos von früher ansieht. Ich fand es toll, im Bett zu liegen und seine Finger schwungvoll über die schwarzen und weißen Tasten tanzen zu sehen. Dann stellte ich mir vor, wie mein Bruder die Töne befreite, die hinter dem Gitterwerk goldener Stahlsaiten gefangen saßen, und wie er sie laut klingend aus dem Resonanzboden entfliehen ließ, sodass sie aufstiegen und in aller Freiheit durchs Zimmer schwebten wie Staubkörner im Licht. Nach dem Spielen erzählte er, jedes Mal von Neuem, mit erhobenem Zeigefinger, dass Canto Ostinato italienisch sei und »hartnäckiges Lied« bedeute.

»Geht Soussi nicht mit?«

»Vier Flügel, die den Canto gleichzeitig spielen. Kannst du dir vorstellen, was uns da morgen erwartet?«

»Echt krass. Aber geht Soussi nicht mit?«

»Soussi im Concertgebouw? Kannst du dir das vorstellen? Diese wandelnde Zeitbombe kann doch keine zwanzig Sekunden still sitzen. Eh du dich versiehst, buht er die Pianisten aus und wirft mit irgendetwas um sich, wenn es ihm nicht gefällt.«

»Daran hatte ich nicht gedacht.«

»Morgen Abend sitzt du genau da, wo sonst Ihre Majestät ihren Hintern platziert.«

»Jihaaa! Darf ich ihr eine Nachricht in die Armlehne ritzen?«

»Was denn für eine?«

»›In De Pijp sind wir heiß!‹ Oder: ›Unter Ihrem Sitz liegt eine Bombe! Wenn Sie aufstehen, geht sie hoch!‹ Oder: ›Rufen Sie an, wenn Sie Lust haben, eine Runde mit mir zu chillen.‹«

Mein Bruder warf seinen leeren Eisbecher in den Abfalleimer, holte ein paar Servietten vom Eiscafé und gab mir eine.

»Ich will, dass du mir was versprichst, Sam.«

An seiner Stimme hörte ich, dass es ihm ernst war. Ich sah ihn fragend an. Er legte mir wieder die Hand in den Nacken. Ich wartete, bis er weiterredete.

»Versprichst du mir, dass du da weitermachst, wo ich aufgehört habe? Dass du in ein paar Jahren mit diesem verdammten Abizeugnis in den Händen aus dem Gymnasium rausspazierst?«

Er hielt mir entschlossen die Hand hin, seine Armbänder klimperten wie Ketten hin und her. Ich überlegte kurz, während ich auf die Neonbeleuchtung des Lokals schaute, wo in roter Zierschrift»Eiscafé Pisa« stand. Dann wischte ich mir die klebrigen Finger an der Serviette ab und besiegelte das Versprechen mit einem festen Händedruck.

Mein Bruder schaute erst zum Eissalon, dann zu mir und sagte: »Das Versprechen von Pisa.«

Bald danach wollten wir langsam aufbrechen. Ich stand auf und spürte messerscharfe Stiche in den Fersen. Das hatte ich seit Kurzem. Mein Bruder sagte, es käme vom Wachsen. Ich kniete mich hin und band mir die Schnürsenkel zu, als mir auffiel, dass schon eine ganze Weile fast kein Verkehr mehr über die Straße brauste, wie bei einem verstopften Abfluss. Das Klavierstück war in der Tat ein hartnäckiges Lied, ein Ohrwurm, der mir plötzlich ungefragt durch den Kopf ging. Noch ehe ich begreifen konnte, was geschah, entfaltete sich ein unwirkliches Schauspiel vor meinen Augen. Angekündigt wurde es von dumpfen, schneller werdenden Geräuschen aus den umliegenden Straßen, wie lauter und lauter knurrende Löwen. Die Menschen auf den Caféterrassen und vor dem Eissalon blickten erstaunt auf, um zu sehen, was los war. Dunkle Sportwagen kamen aus allen Richtungen über die Fahrbahn geschossen, mit quietschenden Reifen, die auf dem Asphalt Halt suchten, aber durchdrehten wie die Krallen einer über den Holzboden schlitternden Katze. Sie blieben in einer undurchdringlichen Verteidigungslinie vor uns stehen. Wie Kolonnen kämpferischer Soldatenameisen sprangen Männer aus den Sportwagen. Sie bewegten sich in einer Symphonie aus aufgerissenen Autotüren, schnellen Schritten und durchgeladenen Maschinengewehren. Die Umstehenden stießen erschreckte Schreie aus wie ein Ensemble von Opernsängern und stoben davon, als würde ein starker Wind sie wegpusten. Wir wurden von Giganten in Jeans mit kugelsicheren blauen Westen und Baretten auf dem Kopf umstellt. Die auf uns gerichteten Gewehre wirkten in ihren eindrucksvollen Händen so klein, dass man hätte schwören können, es seien Spielzeugwaffen. Erstarrt blieb ich auf dem Boden hocken, die Schnürsenkel in Händen, als wäre ich nach einem Vulkanausbruch von einem Aschesturm überfallen und darunter begraben worden. Die blauen Riesen hielten Abstand und brüllten meinem Bruder Befehle zu. Ich sah ihre spähenden Augen hinter den Visieren auf den Läufen ihrer Maschinengewehre. Neben mir hob mein Bruder die Hände zum Himmel, machte zwei Schritte nach vorn und drehte sich langsam zu mir um.

Ich schaute zu ihm.

Noch mehr Gebrüll. Mein Bruder legte die Hände auf den Kopf, sein Bizeps wölbte sich aus dem T-Shirt, unter den Achseln wurden kreisrunde Schweißflecken sichtbar. Er sah mich nicht an. Beklommen kniete er nieder, sodass wir uns auf einer Höhe befanden. Die Riesen in der Mitte der Reihe pirschten sich an und brachen die Verteidigungslinie auf. Ihre Schritte klangen wie ein aufdringlicher Trommelwirbel, und während einige Riesen auf uns zukamen, griffen die anderen erneut nach den Kolben und gaben ihnen Rückendeckung. Ohne mich anzusehen, sagte mein Bruder: »Schau ins Terrarium, versteck’s. Wir sehen uns.« Sie waren fast schon bei ihm, als er eine unerwartete Bewegung machte; seine kräftigen Knie knirschten auf dem Klinkerpflaster und er nahm eine etwas andere Haltung ein. So laut brüllten sie, dass mich die Luftschwingungen wie Schläge trafen: »Keine Bewegung oder wir schießen!«

Er verharrte totenstill, bis sie um ihn herum wuselten, ihn bei den Armen packten und ihm Handschellen anlegten. Sie zogen sie eng an, es klang scharf und erschreckend. Mein Bruder hatte die Hände hinter dem Rücken gefesselt und eine ganze Prozession Polizisten zu beiden Seiten, wir schauten uns nicht länger als eine Nanosekunde an. Es war unser intimster Moment.

Der Bezwinger wurde bezwungen.

Sie nahmen ihn mit. Und plötzlich überkam mich kochende Wut, die meine Erstarrung löste. Ich rannte zu meinem Bruder, klammerte mich mit aller Kraft an seine Beine und stemmte die Fersen in den Boden. »Lasst ihn los! Er geht nicht mit! Er bleibt bei mir!«

Vier Riesen brauchte es, um mich von ihm loszureißen. Mein Bruder wurde in einen Wagen geschoben. Sie rasten röhrend davon. Das Dröhnen der Motoren verstummte, als würden diese einem behutsam die Hände senkenden Dirigenten gehorchen.

Ein argwöhnischer Polizist hielt mich immer noch mit kräftigem Griff fest und fragte seinen Vorgesetzten, der ein Stück weiter telefonierte: »Nehmen wir den Jungen mit?«

»Was glaubst du denn?«

Der ranghöhere Polizist kam auf mich zu, sah mich an und sagte: »Deinen Bruder siehst du so bald nicht wieder. Geh nach Hause. Julianastraat 21, oder?«

Ich blinzelte.

»Lass ihn los.«

Der Bulle ließ mich los, ich drehte mich um und wollte nach Hause sprinten. Doch der, der gesagt hatte, dass ich gehen dürfe, packte mich plötzlich resolut, während er in sein Telefon zeterte. Dann hielt er das Handy an die Schulter, deutete auf meine Schuhe und sagte: »Binde dir die Schnürsenkel zu, sonst fällst du noch hin.«

Das lautlos flackernde Blinklicht der Polizei autos spiegelte sich in den Schaufenstern und färbte die Scheldestraat blau. Ich rannte los, sah einen Haufen Polizisten bei dem jüdischen Imbiss. Soussi leistete heftigen Widerstand. Er war schon gefesselt, stemmte aber weiterhin die Füße gegen den Türrahmen.

Keuchend schnaubte er: »Ein Marokkaner in nem jüdischen Lokal. Das kann gar nicht koscher sein, was?!«

Schließlich verfrachteten sie ihn mit viel Mühe ins Auto. Kurz bevor sie abfuhren, schoss sein Bein plötzlich durch die Scheibe. Es machte einen Höllenlärm, die Glasscherben schlitzten sein Schienbein auf und färbten es rot.

Ich rannte weiter, über die Kreuzung, wo Polizeimotorräder den Weg versperrten und Polizisten den Verkehr umleiteten.

Auf der Brücke sah ich zuerst den weißen Flaum und danach die langsam mit der Stadtlandschaft verschmelzende, flügellose Taube.

Der letzte Unterrichtstag

Ich träumte von Propellern, die ständig mit Überschallgeschwindigkeit an meinen Ohren vorbeisausten. Ich schwebte zwischen Träumen und Wachen, bis ich missmutig vollends wach wurde. Meine Blicke schossen rasend schnell wie das Visier eines Heckenschützen hin und her, um die Geräuschquelle auszumachen. Eine Mücke kreiste dicht über meinem Gesicht. Wütend sprang ich auf und verfolgte sie, klatschte immerzu in die Luft, sodass es in meinem Zimmer echote und meine Trommelfelle zitterten wie dünne Fensterscheiben in einem zu lockeren Rahmen. Ruckelnd flog die Mücke an den Postern meiner Helden vorbei. Muhammed Ali in Angriffsposition. Ludwig van Beethovens grimmiges Gesicht. Arnold Schwarzenegger in einem Speedo. Und der rappende Poet mit hochgerecktem Mittelfinger. Der größte Schwarze aller Zeiten. Größer noch als Miles Davis. Im Begegnungszentrum gab es welche, die sagten, er sei wie Allah. Aber wenn Allah fünf Kugeln abbekäme, würde er röchelnd stürzen und sterben, 2Pac nicht. Sein Lebensmotto hatte er auf sein Sixpack tätowiert: thug life. Ich hatte es mir in der letzten Mathestunde mit Tinte auf den Bauch geschrieben  – wenn man genau hinschaut, sieht man es noch. Die Mücke ließ sich schließlich zwischen ihren erlegten Kumpanen an der Decke nieder. Ich redete ihr gut zu: »Ich habe ja nichts gegen eine Blutspende, aber hole sie dir leise.«