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Fritz von Herzmanovsky-Orlando

Der Gaulschreck
im Rosennetz

Groteske

Herausgegeben von
Klaralinda Ma-Kircher

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Nachwort

1

Es war ein wunderlicher Zug, der sich durch den lind rieselnden Schnee vom Kärntnertortheater her bewegte.

Voran schritt, von seiner baumlangen, dürren Gattin sorgsam an der Hand geführt, der kaiserliche Hofzwerg i. R. Zephises Zumpi, hinter ihm seine zwei ältlichen Töchter, von der Natur mit nur kümmerlichen Reizen bedachte Mädchen, und mit ihnen als Kavalier ein lang aufgeschossener Herr in steifer, würdevoller Haltung, der Hofsekretär Jaromir Edler von Eynhuf. Der pensionierte Hofzwerg kämpfte schnaubend gegen den spannenhohen Schnee und war sichtlich übler Laune, zumal er seiner ungleich großen Füße wegen etwas schwer ging. Die Gattin lugte affenartig schnell mit den tiefliegenden Äuglein sorgsam nach Hunden aus, mit denen sie des Gemahles wegen in bitterer, nicht enden wollender Fehde lebte. Wie häufig war es doch vorgekommen, dass der quieszierte würdige Beamte von einem solchen Untier gebeutelt, jeder Würde bar, schmutzbekrustet, gackernd vor Wut, von mitleidigen Passanten zu Hause abgegeben wurde.

„Die Höllteufel hat sich wieder einmal selbst übertroffen“, brach Hofsekretär von Eynhuf die Stille. „Wie s’ die Spenadelarie exekutiert hat, das hat schon nicht seinesgleichen – und schön ist sie, wie s’ so mit dem feschen Spazierstock – wo die rosa Straußfeder oben war – daherkommt, in die grünen Trikots mit den goldenen Fangschnüren drauf – ich sag nicht wo – die verführerische Teufelin die ...“

„No pfui, pfui“, fiel ihm Krispine, des Hofzwergs ältere Tochter, ins Wort, „ekelhaft war’s, direkt indezent hab ich’s empfunden, während hingegen der Czwaczek mit dem schmelzenden Jubel in der Stimme mir direkt ans Herz gegriffen hat! Der große Künstler der! Das ist, wie wenn ein Engerl mit schwarzem Vollbart singet!“

„Geh mit dem faden Czwaczek weg, ja“, unterbrach Kiliane, die Jüngere, mit bissig näselnder Schnupfenstimme, „was ist das alles gegen ’n Jalowikar, den s’ mit Recht den ‚Fürst der Grazien‘ nennen, so ein feuriger Tänzer, was der ist.“

„Sehr mit Unrecht“, fuhr Eynhuf dazwischen, „a) hat er zur Führung dieses Beinamens, so viel mir bekannt ist, keine behördliche Bewilligung, und b) hat der Mensch Plattfüße wie die Tschinellen. Das müssen selbst Sie mir zugeben, wie der den Apfeltanz im großen Ballett ‚Vertumnus und Pomonas silberne Hochzeit oder Die Rache des verzauberten Obstkorbes‘ verpatzt hat, war einfach abscheulich. So ein schwerfälliger Mensch darf eben nicht als Apfel verkleidet einen Pas de deux mit einer genäschigen Brummfliege tanzen. Wenn sein Bruder eben nicht Obersthoflöschhornputzer wäre, nie würde er, das sage ich Ihnen, beim Kammerballett mitwirken dürfen. Tut mir leid, wenn ich vielleicht ein Ideal zertrümmere ...“

Kiliane schwieg und seufzte mit nasalem Katarrhanklang laut auf.

Das Kunstgespräch hatte sein Ende und die kleine, vom Schnee wie überzuckerte Karawane war beim Zumpischen Wohnhause in der Walfischgasse angekommen. Beim Abschiede, der kurz war – der mürrische Zwerg drängte ins Bett –, schnitt Mama Hofzwerg mit dünnem, keifendem Organ zu Eynhuf gewendet die Unterhaltung mit folgenden Worten ab: „Wir danken Ihnen sehr für die freundliche Begleitung. Heute war es wirklich schön, und am Sonntag wird uns der Herr Hofsekretär von Eynhuf, wann er nach der Jausen zu uns kommt, die Spenadelarie auf der Flöte blasen.“

„Aber wo denken hin, Frau Hofzwerg“, wehrte Eynhuf bescheiden ab, „ich hab ja noch die Derwischtänze, prächtige Suiten von Johann Nepomuk Hummel, zu üben, und die Spenadelarie, die bring ich nie zustande – bei die Pizzicatos und Staccatos werde ich fürchterlich stolpern, die sind kaum zu blasen, wo ich noch dazu keine Halbtöne hab, was am Instrument liegt. Sie ist zwar ein echter Stradivari, aber in dena Flöten war er Dilettant. Aber die Eitelkeit hat ihm halt keine Ruhe gelassen. Gottlob, dass er sich nicht noch auf die Trommeln geworfen hat.“

„No, wär’ noch schöner“, fuhr ihn Frau Zumpi an, die unter der verschneiten, bänderreichen Kapotthaube aussah wie aus altem Käse gebosselt, „da bin ich doch neugierig!“ Und streng funkelten den Sekretär die kleinen Affenäuglein und der demantene Nasentropfen an. „No, das möcht ich sehn, ob Sie ’s bis Sonntag können, ein Mann, der was sogar bei der Fußwaschung hat mitpfeifen dürfen. Wie oft Sie das Hochamt bei St. Stephan mit Ihrem Flötenklang haben verzieren helfen, davon red ich ja gar nicht.“

„Gute Nacht! Hab Bauchweh“, murrte der alte Herr, der winzig zusammengeduckt im Schnee stand und mit seinem Stocke wütend die Schelle zu erreichen trachtete. Das hohe, finstere Tor tat sich auf, man blickte in einen von der Laterne des Hausmeisters schwach rötlich beflackerten Hallenflur des alten Barockpalastes, in dem des müden Hofzwergs Familie, die man wohl nur als Abfallsprodukt der gnädigen Schöpfung bezeichnen konnte, lautlos verschwand.

„Wie eine Nussknackerquadrille“, dachte selbst Eynhuf, der ihnen gedankenvoll nachblickte. „Nein, pfui!“ korrigierte er sich selbst im nächsten Augenblicke. „Es sind würdige, angesehene Leute und mir gut gesinnt. Hm! Aber ob ich mich für die Ältere entscheiden soll? Gewiss eine Ehre, in die Familie hineinzuheiraten, gewiss, ganz gewiss. Finde überhaupt das Gefrotzel meiner Herrn Kollegen nicht am Platze. Na, mich kränken sie nicht, wenn’s auch immer hinter mir heißt ‚Hofzwergs künftiger Schwiegersohn‘. Am alten Beamtenstatus hätte man nie rütteln dürfen, das sag ich, und bloß den Wühlereien der verfluchten Freimaurer ist es zu danken, dass die Hofzwerge unmöglich wurden. Ja, der Sonnenfels! Waren alle treue Stützen von Thron und Altar und jeder umstürzlerischen Strömung abhold. Manch römischer Kaiser“, hier verbeugte er sich im Gedanken, „lieh den wackren kleinen Leuten gerne sein hohes Ohr. Das müssen prächtige Herren gewesen sein! Wie oft habe ich meinen Großvater selig davon reden gehört. Ganze Reihen glanzvoller Namen!“ Er zählte für sich an den Fingern her: „Da waren einmal die Einöhrl, Wimhölzl, die Zirps, der Tschwertschkarsch, den was August der Starke gelegentlich einer Serenade im Finstern zertreten hat, der Hirnwimmerl, die Brüder Zirm, der Domhopf, der Kipfeldanz, der Balthasar Würmsieder, der Tümpeltey, der Woiselmayer, der Zitterzipf, der Krschiwoprd, der Schuschniak, vom unvergesslichen Krschisch gar nicht zu reden. Er soll der Erfinder der böhmischen Sprache gewesen sein, hör ich! Für einen schwermütigen Prinzen aus dem Hause Habsburg soll er sie ersonnen haben. Der ist davon gesund geworden, und seither soll bei Hof eine gewisse Vorliebe ... aber pst!“ Scheu sah er sich um. „Ja, weiter, der Grienpimpel aus London, der Kniakal, der Wanzenböck, der was den Prinzen Eugen gestürzt hat, dann der Gobbi, soll königliches Blut in den Adern gehabt haben, munkeln, hör ich, die Leute, war auch Savoyischer Leibzwerg. No, dann der Clemens Ritter von Cicerambuli, ein ehrfurchtgebietender Greis, hat mich selbst als Kind oft auf den Knien gewiegt, bei uns zu Haus haben lauter Hofzwerge verkehrt.

Die haben’s alle auf ihre alten Tage zu vergoldeten Equipascherln gebracht, manche mit vier Ziegenböcken – der Wanzenböck ist sogar nie anders als sechsspännig gefahren, bunte Bandeln auf die Hörner – und die höchsten Damen sind hinten nachgelaufen und haben sich um die Ziegenbemmerln gerauft, um sie im Wäscheschrank als Glücksamuletterln zu verstreuen. So weit hat es natürlich der gute Zumpi nicht gebracht, aber ich achte ihn hoch wegen seiner strengen Moral, der hat seine Töchter wohl behütet, sodass ich sicher sein kann, eine Jungfrau in die Ehe zu bekommen. Und schließlich“, Eynhuf schlenderte, behaglich in seinen Radmantel gehüllt, seiner Wohnung zu, „ist der Mann vermöglich, ohne Zweifel. Da hat er einmal die schöne Pension, 117 Gulden 27 Kreuzer, 19 Gulden 54 Kreuzer Quartiergeld, wenn ich nicht irre, was seinem Majorsrang – war Hofzwerg erster Klasse – entspräche. Dann sein Geburtshaus in Krummnussbaum, so viel ich weiß schuldenfrei. Und überdies muss er ja auch noch ganz nett daneben verdienen, mit den Leiden Christi und den sieben Schmerzen Mariä, die er, aus Holz, Moos und dergleichen gebastelt, in die Kirchweihflaschen macht, und die Apostelfiguren, die was er aus wirklich vom Ölberg herstammendem Straßenkot herausdruckt. No, und vom Herzog von Sachsen-Teschen, dem hohen Herrn mit dem feinen Kunstsinn, bekommt er manch hübschen Zwanziger zugesteckt, wenn er ihm beim Zurechtschneiden der Kupferstiche hilft, vom guten Tokajer gar nicht zu reden. Ja, am Ende würde er gar noch im Ruhestande“, er klopfte abergläubisch auf seinen Schuhabsatz, „unbeschrien! wirklicher geheimer Oberzwerg. Da hätte er noch das Extrabene, dass seine Frau, beziehungsweise die ältere Tochter, als landesfürstliches Privileg statt der bekannten Auskocherin, der Schmauswaberl, die allerhöchsten Überreste von der Hoftafel zum freihändigen Verkauf bekäme. Wäre wohl eine schöne Zubuße zur Mitgift! Freilich, in besseren Zeiten hätte er vielleicht sogar den ‚Exzellenz‘ bekommen, aber so –“

Missbilligend das Haupt schüttelnd ging Eynhuf weiter.

„Und dann, richtig, ist noch ein kinderloser Bruder da, der was in Krummnussbaum die väterliche Ohrlöffelschmiede betreibt! Verdient ein unmenschliches Geld, hat schon Ohrlöfferln geliefert für den lieben Heiligen Vater und den Großmogul gar, weit hinten in Kalikut, da, wo vor vier Jahren die Gesandtschaft nicht hingefunden hat und unverrichteter Dinge wiedergekommen ist. War eine zuwidere Geschichte! Ist aber stolz und streng, der reiche Herr Gewerke, spricht kaum mit einem. Freilich, mit großen Herren ist nicht gut Kirschen essen. Dem gehört auch der ‚Silberne Floh‘ in Stadt Steyr, das große Einkehrgasthaus. Hm! Dann wär’ noch die Tante in Krems da, gleichfalls jungfräulichen Standes wie ihr Bruder, mit dem Kropf und der seidenen Hauben. Wann die nur nicht eine Dummheit macht mit der Ziehtochter, der Barbara Wispel! Gefällt mir gar nicht, das rothaarige Ding mit den verkehrt eingesetzten falsch blickenden Augen! Ganze Kisten Dukaten hat, hör ich, die Frau in ihrem Spukhaus. Sieht man schon an den riesigen Reitern aus Lebzelt, die was sie den Nichten bringt, wann s’ die ‚Ordinari‘* erwischt, um nach Wien zu fahren.“

Unter diesen angenehmen Betrachtungen war der verzuckerte Sekretär zu seiner Wohnung im Kleinen Querulantenhaus gekommen, das still und friedlich in der silbernen Winternacht da lag. Sperrte auf. Seine Tritte knirschten leicht auf dem feinen Reibsand, mit dem die Kelheimerplatten des Flures bestreut waren. Eine schmale Treppe mit schwarzeiserner Griffstange führte hinauf. Schwacher, aber eiskalter Modergeruch entströmte einem kleinen Luftloch, dessen Zweck nicht recht ersichtlich war, und erfüllte den Spiralgang der Stiege. Eynhuf schüttelte den Mantel ab, sperrte die Tür auf und schlüpfte in seine Wohnung, deren Fenster ins Sodomitergassel gingen, so genannt nach der Bruderschaft „Zur fortdauernden Beweinung der Gräuel Sodoms“. Schlug Feuer, blies den Zunder an, bekam endlich Licht, setzte sich behaglich an den Schreibtisch und blickte etwas geistlos in die Kerzenflamme.

Allgemein galt er als schöner Mann, glich er doch frappant den gewissen Männerbüsten, die sich in den Auslagefenstern von Vorstadtfriseuren in feierlich dummer Würde, bisweilen von leiser, nebelhafter Musik umquiekt, langsam im Kreise drehen, leichtvergilbten Wachsteint im Gesichte, die schwarzlackierten Augen, wie die verendeter Rehböcke, blind vom Staub. Von unnachahmlich schäbiger Eleganz ist ihre Kleidung. Laubfarbiger Frack, die Krawatte stets von himmelblauer Seide, verschossen, mit einer Fischschuppenperle. Der weiche, dünne Bart dokumentiert eine vertrauenerweckende, sanft eingedämmte Männlichkeit. Doch atmet die ganze Erscheinung eine gewisse, man könnte fast sagen Bockbeinigkeit, ja, ist imstande, den Eindruck von fast puritanerhafter Strenge zu erwecken. Schärfer blickenden Beobachtern kann selbst ein Hauch, freilich bloß ein Hauch von leichtem Teufeltum nicht entgehen, der über diesen Figuren brütet. Unwillkürlich drängt sich die Idee auf, dass diese Herren geistige, vielleicht besser gesagt, mystische Großneffen der antiken Panshermen seien, dass sich in ihnen ein letzter Funke verschollenen Flurgöttertums in unsere Zeit hinübergerettet habe, vor pfäffischer Verfolgungswut untergekrochen bei den Friseuren, diesen letzten, freilich unbewussten Dienern faunischer Wollust, diesen kundigen Templern Priaps, diesen heimlichen Narzissusknechten, denen das okkulte Bindeglied zur korybantischen, zimbeldurchrauschten Zeit glücklich vermodert ist. Aber was soll man sich da als bloßer Amateur den Kopf zerbrechen! Selbst der dem Heiligen Stuhle angegliederte Satanialrat Dr. infern. Damianus Saperdibixi hat das Rätsel noch nicht lösen können, das Rätsel der Panheit. So möge denn uns genügen zu konstatieren: Sogar der ungezogenste Bube würde sich nie trauen, an diesen Idolen der Männerwürde einen Schabernack zu verüben, und bloß vom Lande zugewehte Fliegen sitzen zuweilen als störendes Beiwerk auf der stets würdevoll langen, leicht gekrümmten Nase des Bildwerkes.

Von Eynhuf wohnte gerne im Kleinen Querulantenhause. Schon ober der Haustüre war eine Statuette des Patrones der Ämter angebracht, des heiligen Ärarius, Blutzeugen und Märtyrers, der unter Diokletian einen qualvollen Tod durch Ersticken in glühendem Streusand gefunden hatte.

Wie Weihrauchwolken ein Münster, erfüllte die Hallen dieses Gebäudes der Hauch fiskalischer Würde, der Abglanz von Titeln und kleinen Ordensabzeichen, vermischt mit den Todesseufzern zwischen Aktenblättern verhungerter Papierläuse. Lauter höhere Beamte hausten dort. Da war einmal der Hofrat Unklar von Dobblworth, der Kammerkalligraph Futzler, der Rechnungsrat Kreibenzahl, die Sekretäre Zweifelschütz und Müchtelmann, endlich die Hauptleute der Trabantenleibgarde Stojesbal von Standschlaf und Quapil Edler von Sumpfritt. – Aber der Stolz der Corona, das uneingestandene Oberhaupt aller, war ohne Zweifel die Jungfer Ursula Schosulan, mehrfach jubilierte ehemalige Kammerfrau der unvergesslichen Kaiserin Maria Theresia.

Nur einmal hatte ein Musikus dort gewohnt ... wenige Tage nur. Dann litt es den unsteten Mann nicht länger. Mit Naserümpfen gedachte Eynhuf des Auszuges. Ein sechseckiger, tulpenförmig geschweifter Spucknapf aus Kirschholz, mit messingenen Löwenköpfen verziert, war der ganze Hausrat jenes Künstlers gewesen. Den trug er selbst, noch dazu in der Zerstreutheit auf den Kopf gestülpt. Finster blickend ging er Takt schlagend von dannen. Beethoven hatte sein Name gelautet – der hatte nicht hingehört. Jetzt war man wieder unter sich.

Doch halt, noch eine Partei passte nicht hin: die Bubenzopfmädeln! Der Vater war Ahnenprobenexaminator-Stellvertreter II. Klasse im k. Hofhengstendepot gewesen. Ein unvermuteter Hufschlag, der ihn bei einem Nachmittagsschläfchen im Sorgenstuhle seines Amtszimmers ereilte, raffte den pflichteifrigen, verdienstvollen und zu den schönsten Hoffnungen berechtigten Mann in der Blüte seiner Jahre vorzeitig dahin und machte eine wackere Frau zur kummerbeladenen Witwe, die nebst achtzehn Blatt gerahmter Kupferstiche ‚Die berühmtesten Beschälhengste des k. Gestütes zu Lipizza‘, wackere Arbeiten eines sicheren Blasius Hampfelmeyer, bloß eine karge Pension und zwei unversorgte Töchter ihr Eigen nannte. Aber was für Töchter! Eynhufs Stirne umwölkte sich unwillkürlich, wenn er an diese Bälger dachte. Halbwüchsige Mädchen mit frechen Stumpfnasen, großen Mäulern und wissenden Augen. Immer waren sie schmutzig, immer sah man die bloßen Kniekehlen über den kleinbürgerlich kurzen, rot-weiß gestreiften Strümpfen, und den ganzen Tag trieben sie sich auf der Gasse herum oder steckten bei der Schmauswaberl, der alten Kammertafeldeckerswitwe, bei der die leckeren Reste der Hoftafel billig feilgeboten wurden. Dort spuckten sie, unter dem Vorwande, der halb blinden Alten beim Kochen zu helfen, gerne in die brodelnden Töpfe und ritten vor Vergnügen kreischend auf dem Nudelwalker Steckenpferd. Kurz, Untat über Untat. Lieber gar nicht davon sprechen! Bekümmert ging Eynhuf zu Bette, um sich durch gesunden Schlummer für die Berufspflichten des kommenden Tages zu stärken.

* damalige Donaupostschiffe

2

Nie betrat Eynhuf sein Amt anders, als mit einem Gefühl aus freudigem Stolz und gebührender Ehrfurcht gemischt. Im Amtszimmer des Hofrates Sauerpfister, seines gestrengen Vorgesetzten, hing ein schönes Gemälde mit vielen tausend Figürchen, „Die Wallfahrt des gesammten erbländischen Hochadels nach Maria Taferl an der Donau“, das er täglich abstauben musste, da Sauerpfister diese heikle Aufgabe dem Amtsdiener nicht anvertraute. Sorgsam entfernte er jede frisch dazugekommene Fliegenspur, besonders wenn dieselbe Ordenssterne oder dergleichen ungültig zu machen schien, und zwar mit Semmelschmolle, die er nach Gebrauch seinem zweiten Vorgesetzten, Sekretär Wanzenhengst, einem passionierten Zeisigzüchter, für dessen Mehlwurmhäferl überreichte. Das Gemälde sah er nie ohne tiefen Respekt, ja selbst mit leichtem Schauer an. War ihm doch bekannt, dass kein Nachkomme von denen, die damals bei dem Freudenzuge fehlten, je eine Ministerstelle in Österreich bekleiden konnte. So stand zu lesen im „Clavis absconditarum rerum, seu liber de bicepitis Austriae acquilae confuso quasi, sed tamen directissimo volatu voluntate Domini Dominorum Septemcollis Urbis Dominique directo“, das ist „Der Schlüssel zu den Rätseln der verborgenen Dinge oder Das Buch über den scheinbar wirren, dem österreichischen Doppeladler jedoch vom König der Könige, auch Herrn der Siebenhügeligen Stadt vorgeschriebenen Fluge“.

Ungeheuer selten war das Buch, angeblich in Hauzenpichl gedruckt, aber jedes Kind wusste, dass in Hauzenpichl niemand drucken konnte. Übrigens hätte es Eynhuf selber nie zu lesen gewagt, da solcherlei Schriften strenge verboten waren. Im „Hortulus voluptatis dementiae praecocis“ dagegen, dem „Vergnüglichen Trottelgärtlein“ zu blättern, war ihm geradezu ein Hochgenuss. Belehrung hinwiederum sowie nützliche Aufmunterung schöpfte er reichlich aus dem jetzt schon hübsch teuer gewordenen Drucke „Reiseerlebnisse eines Handgängers oder Curieuse Beschreibung einer von Wien bis Passau, sowohl zur persönlichen Zerstreuung als auch zur Erweiterung seiner Bildung, jedoch nicht ohne Mühe, durchaus auf den Händen zurückgelegten sommerlichen Erholungsreise, benebst historischen und botanischen Adnotationen, sowie volkstümlichen Musikeinlagen, mit den bloßen Füßen auf dem Waldhorne zu blasen von Peregrinus Klebel von Pratzentanz, Landesfürstlich befugten, auch geprüften und beeideten bürgerl. Handgänger“, einem bekannten Sonderling, der übrigens das Vorbild war, das unsern unsterblichen Schubert zu seinem „Wanderer“ begeisterte, was nur sehr wenige wissen dürften. Aber all dies war Eynhufs größte Freude nicht. Nur mit Wonneschauern konnte er an dieses sein Privatlätitzerl, selbstredend reinster, jungfräulichster Natur, denken, an seine Milchzahnsammlung, die größte, vollständigste in den gesamten Erblanden, wie ihm alle Kenner versicherten. Was gab es auch Keuscheres als diese Perlenzähnchen der Unschuld, dieses Schmuckkästchen der Demut? Schien es ihm doch immer, als ob in rosa Wolken blaubebänderte Lämmer unter Leitung eines ernst blickenden Oberlammes ein sanftes Konzert auf kristallenen Triangeln schlügen, so oft er das Kästchen öffnete. Und nicht etwa aus schmutzigem Geiz oder spinnefingriger Habgier gab er sich so unsägliche Mühe, nein, für seinen Kaiser! Ihm war die Frucht so vieler Jahre zugedacht, Ihm sollten eines Tages die Zähnchen, appetitlich zum Tableau arrangiert, entgegenlachen, zur Jubiläumszahl seiner Thronbesteigung anmutig zusammengestellt.

Zum minutiös symmetrischen Aufbau der erhabenen Zahl fehlte gerade ein Milchzahn, ein Umstand, der Eynhuf viel Kopfzerbrechen machte. Ein weniger pflichttreuer, oberflächlicher Mensch hätte einen x-beliebigen Milchzahn genommen, aus weiß Gott was für einem missgeborenen Munde, und das Tableau dem nächstbesten Papparbeiter zur Fertigstellung übergeben. Wie ganz anders dachte da unser Hofsekretär. Er musste, das stand bei ihm fest, der schönste sein, sozusagen der Fürst aller Milchzähne, ein Zahn der größten lebenden, allgemein anerkannten Schönheit. Das war doch klar. Aber wer war das nur? Oft und oft hatte er angestrengt nachgedacht und sich sogar beim Nasenbohren erwischt. Nichts fiel ihm ein. Da plötzlich – wie ein Wunder – stand es sonnenklar vor seinem geistigen Auge: gestern Abend im Theater – die Höllteufel!

„No, da hat man’s! Die Höllteufel! Jetzt war’s gelöst, was mich beunruhigt und mir selbst die Erledigung des seit vielen Tagen so sehnlich erwarteten Verdauungsaktes versagt hat.“ Freudig tanzte er auf seinen schwarzen Storchenbeinen um den grünen Diplomatenschreibtisch herum, nicht achtend, dass er dabei den in Tragbuttenform gehaltenen mächtigen Papierkorb umschmiss. Zu allem Unglück öffnete sich die Türe, Hofrat Sauerpfister trat ein und musterte das tolle Treiben seines Untergebenen mit ernstem Blicke. „Verzeihung“, murmelte Eynhuf, „ich gab nur meiner Freude submissest darüber Ausdruck, dass Seine Majestät, der König von Portugal, die Schafblattern glücklich überstanden hat, wie ich dem Amtsblatte soeben entnehme.“ Diese loyale Kundgebung befriedigte den gestrengen Amtsvorstand sichtlich und ließ ihn ganz vergessen, warum er gekommen war. Gemessenen Schrittes ging er in sein Sanctissimum zurück, um zum dritten Male zu frühstücken. Die Diurnisten Kuscher und Schluckentritt ließen, als er durch das Vorzimmer schritt, emsig die Gänsekiele übers Papier rascheln, hatten sie doch, da das Amt fast ressortlos war, alle vorhandenen Akten nochmals in grüner Tinte mit schwarz-gelben Anfangsbuchstaben zu kopieren.

Berauscht von der Eingebung, die ihm wie aus heiterem Himmel gekommen, saß Eynhuf still an seinem Schreibtisch und spielte ununterbrochen mit dem Falzbein bis Schlag drei Uhr, zu welcher Stunde der pflichttreue Beamte das Büro zu verlassen pflegte, um sich in sein gewohntes Speisehaus „Zur Flucht nach Ägypten“ zu begeben.

Dort war ein feinsinniger Kreis von Gleichgesinnten versammelt, die, nachdem sie das gemeinsame schwere, jedoch ehrende Joch der Amtspflichten an den Nagel gehängt hatten, sich in maßvoll gehaltenen Gesprächen, ganz auf dem Boden des „Wiener Diarium“ fußend, zu unterhalten pflegten. Um diese Stunde war auch Vater Zumpi ständiger Gast des Lokales. Er liebte es, sein Seidel schwarzen Kaffee zu schlürfen und spielte sein regelmäßiges Tarock mit noch zwei andern Hofzwergen, den letzten Überlebenden des einst so geachteten Standes, und dem gleichfalls pensionierten Hofriesen Simson Baumrucker, einem gebürtigen Tiroler, der seinerzeit wegen seines Rosenkranzes aus Sechspfünder Kanonenkugeln nicht mit Unrecht gefürchtet und geachtet war. Doch heute war der Mann harmlos, stocktaub und zitterte so arg, dass alles laue Bier im Lokale, der sogenannte Fensterschwitz, appetitlich schäumte. Das machte ihn in weiten Kreisen beliebt und sicherte ihm die Wertschätzung von Seiten des Wirtes.